Ich und Ich

Salzburger Festspiele, Thalia Hamburg: »Faust I und II«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Faust. Eine Erinnerungsgalerie. Kurt Böwe, vor langer Zeit, bei Regisseur Horst Schönemann in Halle: unser Genosse im Mittelalter. Fred Düren bei Adolf Dresen und Wolfgang Heinz am Deutschen Theater Berlin: nur noch der zitternde, gleichsam bleiche Schatten einer Utopie. Jahrzehnte später am gleichen Haus, bei Michael Thalheimer: Ingo Hülsmann als kantig-kalter Herzbrocken, der sich über Seelen wälzt. Sepp Bierbichler bei Christoph Marthaler in Hamburg: Erforscher des Schweigens, nur noch ein Erkenntnis-Stotterer. Und Bruno Ganz bei Peter Stein? Dieser Faust weilte in seiner Biografie, er lebte sie nicht.

Mit dem 20. Jahrhundert ging etwas zu Ende: Goethes Held ist nicht länger Heros einer gut beleumdeten Vernunft. Was die Welt zusammenhält und Faustens Aufhellungstrieb so unablässig anlockte – es hat seine letzten dunklen Kräfte gegen den gnadenlosen Zugriff des Menschen gebündelt, es wirft uns in warnenden Abständen apokalyptische Zeichen an die Wand. Von dort hallen auch die hohen Töne des Weimarer Edelverses nur noch gebrochen wider.

Aufklärung? Ließ den Geschichtslauf nicht klarer werden. Wissen? Machte die Welt nicht weiser. Neugier? Zeugte Reichtümer, daran sich die uralte Gier mästet. Das Faustische erwies sich am Ende als elitäre Spielart des Elendigen. Goethe einen Klassiker zu nennen – vielleicht fordert es vor allem, sein bitteres Urteil über uns Gegenwärtige zu ertragen. Sieh den Faust und sieh also den intelligenten Menschen, wie er sich, rauschmittelbesessen, Selbstermächtigungsgesetze schafft. Wie er Unschuld in den Wahnsinn treibt. Wie er finstersten Mitteln erlaubt, höchst gutem Zweck den Garaus zu machen. Wie er Gott spielt in Welten, die er nicht schuf.

Heinrich, mir graut vor dir. Gretchens Satz am Schluss. Er steht als harte Wahrheit fühlbar schon über der ersten Szene. So hat es Nicolas Stemann inszeniert – »Faust I und II« bei den Salzburger Festspielen, in Kooperation mit Hamburgs Thalia Theater, ein Marathon von fast neun Stunden (Bühne: Thomas Dreißigacker, Nicolas Stemann, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel).

Eine lange Nacht des desillusionierten Augenzwinkerns – bis man freilich vergisst, sich vor natürlicher Müdigkeit die Augen zu reiben. Eine Aufführung, die den ersten Teil der Tragödie fulminant neu erfindet – und eine Aufführung, die den erwiesen unspielbaren zweiten Teil der Tragödie zur Szenensplitterfete erhebt, all das Ungefüge kratzig, aufgedreht mitspielend. Nicht: überspielend.

Dies Paradox: nämlich souveräne Hilflosigkeit – sie nimmt für Stemann ein. (Goethe hat den Text nicht zufällig über den Tod hinaus versiegelt; er wusste, dass die Rumpelbude Theater diesem »Faust II« der Bewusstseinsrisse und Unterbewusstseinsprojektionen nie gewachsen sein würde.)

Erster Teil: Der alte Faust ist jung, muss später nicht verjüngt werden, man ist schon früh am Ende. Sebastian Rudolph betritt die große tiefe Bühne. Er ist Faust. Und Gott. Und Teufel. Und die Engel. Und sämtliche Osterspaziergänger. Er ist in seinem geistigen Nichts alles, ein Wutwürger, der Äxte heranschleppt, Benzinkanister. Farbdosen ziehen rote Linien auf dem Boden – Goethes Luntenlege-Lümmel: Osama bin Faust. Nuschelt berühmte Reimzeilen ins Abseits, schreit sie groß, rammt sie wie Sargnägel in den Raum, als wäre der nicht nur nackt, sondern auch Fleisch. Das Drama als Monolog eines Mannes, der depressiv um sich denkt, als schlüge er um sich.

Das Reclamheftchen mit dem Text fleddert Rudolph, die Buchdeckel lässt er wie eine Bauchredner-Puppe plappern. Wenn er Gott ist, krächzt er wie der alte Minetti; wenn die Engel dem Herrn über den geordneten Lauf der Welt berichten, sitzt er, wieder die Stimmlagen schnell wechselnd, wie ein piepsender Musterschüler am Tisch, Finger schnipsend: Ich weiß was, Herr (Lehrer)! Rudolph ist der Weltanzünder als strubbelguter Junge. Der Berserker als Bürschchen, auf Beutezügen einer ruppigen Selbstgenüsslichkeit.

Plötzlich ein Zweiter im Raum. Gezügelter, stämmiger. Philipp Hochmair. Mephisto. Dann aber auch Faust. Totale Seins- und Bewusstseinsspaltung. Ich, das ist immer ein anderer. Sowas schlaucht den Charakter. Der Teufel steckt nicht nur im Detail, sondern in Jedem. Wenn Gretchen die Gretchenfrage stellt, antworten Rudolph und Hochmair gemeinsam. Dieses Gretchen der mondän scheuen Patrycia Ziolkowska (sie wird auch Helena sein) ist auch Frau Marthe, vor allem ist die Ziolkowska lebendigste Spielerin eines großen Gedankens: Das Hässliche kann man begreifen, das Schöne nie. Und so irrlichtert sie, schön. Fausts Geschmeide-Geschenk hängt als silberglänzendes Seil vom Himmel: als grüße mit dieser Kette, die sich Gretchen um den Hals legt, schon ein Henker.

Der zweite Teil dann: Das ist nicht so sehr »Faust II« (obwohl auf der Szene ständig jemand »Ungestrichen! Ungestrichen!« kräht), sondern eine Art Dokumentationsfete, wie man wohl am besten »Faust II« spielen könnte, den man eigentlich nicht spielen kann. Mummenschanz, Schaumpuppenspiel, Tanz (Franz Rogowski: wild, bizarr, fantastisch körperverdreht), schwarz-weiße Hinterwandmalerei, viel kunstvolles Video. Zwei hinter Greisenmasken – die Mupppetshow lässt grüßen – bezichtigen Goethe, er habe manisch gern Damenhandtaschen inspiziert, so sei seine Mineraliensammlung zustande gekommen. Es kalauert, es witzelt.

Die Faust-Helena-Episode: ein Date beim Candlelight. Homunculus und Euphorion, tragische Geschichten um einen, der körperlich nicht zur Welt kommen darf, und einen, der an der Illusion stirbt, fliegen zu können – Stemann verpflanzt diese Unglücklichen in Glaskasten und City-Spielplatz. Eine Playmobil-Welt, von drei auf sechs Schauspieler erweitert.

Die Inszenierung macht vor allem eines: Betrieb. Selten aber war Leerlauf so sympathisch. Stemann, der mitmusiziert und zwischen den Akten moderiert, schafft es auf intelligente wie freche Weise, dass man den Goethe des zweiten Tragödienteils der Unkonzentriertheit und ermüdenden Ausführlichkeit für überführt hält, aber dem Regisseur doch dankt – für die Volldampffahrt mitten in diesem arg hochgehandelten Stück-Stillstand.

So erfährt man immer weniger über Faust, aber immer mehr darüber, wie man den Leuten – theatertechnisch – was Tolles vormacht. Und immer ist Stemann sein eigener Kabarettist, er lässt einen Quasi-Goethe in Hans-Moser-Tonlage, seines Zeichens ein »Postdramatischer Rat«, über Video-Revolution und regietheatralische Textzerstörung phrasieren.

Am klarsten: Mephistos Papiergeld-Erfindung am Kaiserhof – ein Traktat über die gegenwärtige Finanzkrise mit Verweis auf Jean Zieglers mundtot gemachte Salzburg-Rede. Bis dann Philemon und Baucis an ihrem Strand von Fotoaufstellern der Manhattan-Skyline umstellt sind und Sebastian Rudolphs landbesetzender Faust ein kalt geschniegeltes Ungesicht ist, irgendwo zwischen Christian Wulff und Josef Ackermann. Fausts Urbarmachungsfantasie, hier: Goethes Prophezeihung eines brutalen Raubkapitalismus – ach, so lange hoffnungspathetisch ins Fortschrittliche umgebogen. Wohltuend, aber falsch. Klassiker-Los.

Ein anderer hätte wenigstens den Schluss in merkliches Moll getaucht. Faust jetzt, wie Gretchen einst: Gerichtet! Denn er ist Mephistos Besitz. Aber nein: Gerettet! Er kommt trotz verlorener Wette in den Himmel. Das wird bei Stemann als Text-Laufband rot und beiläufig über die Szene gelegt, es geht unter, während sich die Bühne noch einmal pulkartig füllt, zum letzten Tohuwabohu. So beschwingt gehen große Shows zu Ende, Stemann verliest die Liste der Mitwirkenden – im Tempo, mit dem einst Dieter Thomas Heck die ZDF-Hitparade abschloss.

Dieser »Faust« offenbart: Zeit und Theater sind in ihrer Substanz ziemlich erledigt, doch es wird ein Moratorium gewährt – Hoppla!, wir inszenieren noch! Und zwar Revue! Weltbeholfenheit, das heißt hier: Die geistige Insolvenz tanzt. Hopsefest im Großdichter-Steinbruch. Statt Klippschule Klippenparty.

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