»Mir geht's besser«

Neue Erkenntnisse, Erfahrungen und Verfahren, aber auch alte Klagen beim Deutschen Schmerzkongress

  • Claus Dümde, Mannheim
  • Lesedauer: 3 Min.
Rund ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland leidet unter Schmerzen. Sie kosten die Betroffenen und die Volkswirtschaft jährlich rund 25 Milliarden Euro, vor allem durch Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung.

Ein neues Schmerzmedikament wurde auf dem Deutschen Schmerzkongress 2011 nicht vorgestellt. Aber neue neue Erkenntnisse der Grundlagenforschung, neue Verfahren und Erfahrungen. Darunter auch mit dem 2010 in Deutschland zugelassenen neuen Wirkstoff Tapentadol. Er nutzt erstmals zwei Mechanismen der menschlichen Schmerzabwehr in einem Molekül. Und das offenbar gut. Kai-Uwe Kern, Schmerztherapeut in Wiesbaden, berichtete über Erfahrungen der Behandlung von über 180 Patienten mit dem Präparat. Neben der guten Schmerzlinderung zeichne es sich gegenüber anderen Opioiden vor allem durch geringere Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung und Müdigkeit aus. Bei gleicher Schmerzlinderung wie durch die Vormedikation sagten daher viele Patienten »Mir geht?s besser.«

Über gute Ergebnisse der integrierten Versorgung chronischer Kopfschmerzpatienten in speziellen Kopfschmerzzentren berichtete Thomas-Martin Wallasch, einer der beiden Kongresspräsidenten. Aber auch über den Grund, warum er nicht mehr in Berlin, sondern in der Schweiz arbeitet. Die Krankenkasse, mit der es einen Vertrag über die Kostenübernahme eines multimodalen Behandlungsprogramms gab, bei dem Neurologen, Psycho-, Verhaltens-, Physio- und Sporttherapeuten im Zusammenwirken alle Faktoren aufdecken, die häufig wiederkehrenden Kopfschmerz bedingen, und ihn umfassend behandeln, wurde gekündigt.

»Alles multimodal? - Chancen + Grenzen« hieß das Motto des Kongresses. Seine Organisatoren wollten damit ihren Ärztekollegen und Patienten, der Öffentlichkeit, nicht zuletzt der Politik in Erinnerung rufen, dass Schmerzen, zumal wenn sie immer wiederkehren oder chronisch sind, in den meisten Fällen nicht nur eine einzige Ursache haben und auch nicht durch eine Pille oder Spritze kuriert werden können. Vielfach verwiesen Referenten darauf, dass Ängste und Sorgen, etwa vor Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und Armut, dass Stress und Überforderung am Arbeitsplatz starke Auswirkungen auf das Schmerzerleben haben. Im Festvortrag zur Kongresseröffnung hatte Manfred Spitzer anhand von bildgebenden Untersuchungen des Gehirns gezeigt, das auch »Ungerechtigkeit schmerzt«.

»Schmerz ist ein multifaktoriell determiniertes Geschehen, daher sind monomodale Therapien häufig zur Behandlung nicht ausreichend«, betonte Kongresspräsident Michael Pfingsten. In den letzten 20 Jahren wurden multimodale Behandlungsprogramme entwickelt. Doch das Vergütungssystem ärztlicher Leistungen behindere deren Umsetzung. »Die Versorgung chronisch kranker Schmerzpatienten fällt in Deutschland aktuell durch das Raster des Verteilungssystems des Gesundheitsfonds«, konstatierte auch Wolfgang Koppert, Präsident der Schmerzgesellschaft DGSS. Plastisch sichtbar wurde das gestern beim Präsidentensymposium zum Thema »Medizin und Wahnsinn«. Der Arzt und Journalist Werner Bartens sprach über Vorsorgewahn, der die Menschen in immer neue Diäten, Fitness- und »Sport«-Programme treiben. Eine wichtige Aufgabe der Ärzte sei daher auch, den Menschen nicht ständig ein schlechtes Gewissen zu machen.

Als andere Seite des Wahnsinns in der Medizin verwies Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, auf Beispiele, dass viele kostenintensive diagnostische und therapeutische Verfahren ohne Nachweis eines Nutzens in großem Umfang praktiziert werden. Dafür sei letztlich nicht das »System«, die Politik oder die Patienten mit ihren Ansprüchen verantwortlich, sondern die Ärzte selbst. »Wir haben zugelassen, dass in vielfältigster Form Wirtschaftsinteressen das Ticken des Systems bestimmen.«

Für diese »Diagnosen« gab es viel Zustimmung. Aber auch den Hinweis eines Praktikers im Auditorium: »Um Patienten vor diesem Wahnsinn zu schützen, brauchen wir Zeit. Aber für die Schutzleistung Gespräch gibt es kein Geld.«

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