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Die Jugend verloren

DER ERSTE WELTKRIEG

  • Gerd Fesser
  • Lesedauer: 3 Min.

Über den Ersten Weltkrieg liegt eine Vielzahl von Veröffentlichungen vor. Soeben ist nun die deutsche Übersetzung des originellen Buches erschienen, das der Historiker Peter Englund zu diesem Thema vorgelegt hat. Englund, Vorsitzender der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis für Literatur vergibt, publizierte bereits mehrere erfolgreiche Bücher, so über die Schlacht bei Poltawa 1709 und über den Dreißigjährigen Krieg. Er hat neunzehn Teilnehmer am Ersten Weltkrieg ausfindig gemacht, von denen Tagebücher und Briefe überliefert sind.

Es handelt sich dabei um zwei Deutsche, einen Dänen (der in der deutschen Armee dienen musste), drei Briten, zwei Franzosen, einen Italiener, einen Italo-Amerikaner, einen Russen, einen Amerikaner, einen Ungarn, einen Australier und einen Belgier. Ein Südamerikaner reiste 1914 nach Europa, weil er unbedingt am Krieg teilnehmen wollte. Da ihn keine andere Armee aufnahm, trat er schließlich in die türkische ein. Im Band sind auch zwei Frauen vertreten (eine britische Krankenschwester und eine australische Ambulanzfahrerin) sowie ein deutsches Schulmädchen, das 1914 zwölf Jahre alt war.

Die meisten der Neunzehn waren bisher unbekannt. Am ehesten dürfte der deutsche Matrose Richard Stumpf bekannt sein, der auf dem Großkampfschiff »Helgoland« diente. Nach dem Kriege setzte die Deutsche Verfassungsgebende Nationalversammlung und dann der Reichstag einen Ausschuss ein, der die Ursachen der deutschen Niederlage untersuchen sollte. Stumpf wurde Mitarbeiter eines Unterausschusses und legte ein Gutachten über das Verhältnis zwischen den Offizieren und der Mannschaft der »Helgoland« vor.

Englunds Buch ist chronologisch aufgebaut. Der Autor schildert in wechselnder Folge Episoden aus dem Leben der Neunzehn und zitiert dabei aus ihren Tagebüchern und Briefen. Die Neunzehn erlebten den Krieg an fast allen Fronten – im Westen und im Osten, in Italien, auf dem Balkan, in Mesopotamien und in Ostafrika. Die meisten dieser Kriegsteilnehmer waren 1914 zwischen 20 und 23 Jahre alt.

In fundierten Anmerkungen erläutert der Autor wichtige Ereignisse und Begriffe – so schreibt er über die »Kriegszitterer«, die Massaker an den Armeniern, den »Steckrübenwinter« in Deutschland, den Brand von Saloniki 1917 und die deutsche Infiltrationstaktik 1917/19. Dabei fällt er klare Urteile. So bezeichnet er die deutsche Flottenrüstung als »irrwitzig« und den Brester Frieden als »expansionistisches Diktat sondergleichen«.

Die Perspektive ist nicht die vom grünen Tisch der Generale, sondern die des einfachen Soldaten und der unteren Offiziersränge. Englund vermittelt ein eindringliches Bild vom Alltag und vom Grauen des Krieges. So zitiert er, was der französische Infanterist René Arnaud niederschrieb, nachdem er die mörderischen Kämpfe bei Verdun überstanden hatte: »Ich war vom Schafott des Leidens herabgestiegen und in eine Welt des Friedens und des Lebens zurückgekehrt. Ich dachte, ich sei noch derselbe Mensch, der ich war, bevor ich zehn Tage lang den Tod vor Augen hatte. Ich irrte mich. Ich hatte meine Jugend verloren.«

Viele Details lassen erkennen, dass der Autor etliche Schauplätze des Ersten Weltkrieges selbst in Augenschein genommen hat. Der Band enthält zahlreiche Illustrationen, darunter auch Fotos der Neunzehn, ein Literaturverzeichnis und ein Register.

Englund bemerkt anfangs, sein Hauptaugenmerk habe sich auf den Alltag des Krieges gerichtet: »Dies ist ein Stück Anti-Geschichte insofern, als ich versucht habe, das in jeder Hinsicht epochale Geschehen auf seinen kleinsten Bestandteil zurückzuführen, nämlich den einzelnen Menschen und sein Erleben.« Das ist ihm hervorragend gelungen.

Peter Englund: Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs. Rowohlt. 720 S., geb., 34,95 €

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