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Schwungrad und Treibriemen

WIRTSCHAFT OHNE MARKT

  • Paul Lerner
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie entstand Herrschaft? Friedrich Engels sah die Ursache im Aufkommen des Handels. Der trat in die Gesellschaft, als sich die Produktion so weit entwickelt hatte, dass immer mehr Produkte anfielen, die im Nahbereich nicht mehr gegen andere Produkte getauscht werden konnten, die allerdings in anderen Regionen dafür umso dringender benötigt wurden. Da die Produzenten jedoch nicht in der Lage waren, diese Regionen zu erreichen, wurden Vermittler unumgänglich. Die Kontrolle über dieses nur noch in der Ferne absetzbare Mehrprodukt fiel sehr schnell diesen Vermittlern, den Händlern, zu – aus ihnen rekrutieren sich jene Schichten, die sich nach und nach die Gesellschaft unterwarfen. Eine neue Form von Herrschaft war geboren, ihre Plazenta war der Markt.

Obwohl die Vermittler den Produkten keinerlei Wert hinzufügten, sorgten sie dafür, dass diese Produkte für andere, die ihrerseits diese Produkte wohl benötigten, aber selbst nicht in der Lage waren, sie zu produzieren, einen Wert erhielten. Ein Produkt bekommt nur dann einen Wert, wenn es absetzbar ist. Etwas Hergestelltes, das nicht von Dritten benötigt wird, hingegen ist wertlos; dann besitzt es »nur« einen Gebrauchswert. Erst der Austausch verwandelt ein Produkt in eine Ware; erst dann hat das Produkt nicht länger »nur« einen Gebrauchswert – es wird benötigt, und deshalb wächst ihm ein Wert zu.

Der kann allerdings sehr unterschiedlich sein. Eines der großen Missverständnisse der heutigen politischen Ökonomie ist der schwer ausrottbare Glaube, jeder einzelne Wert entspringe der Arbeitszeit, die für die Herstellung eines Produktes benötigt werde – und für den Übergang in eine »gerechte« Gesellschaft sei es lediglich notwendig, dem Produzenten den »vollen Wert« seiner geleisteten Arbeit auszuzahlen.

Einer der Gurus dieser »Theorie« ist der Ökonom Heinz Dieterich (Mexiko-City) – ein bei Teilen der deutschen Linken immer wieder gern gesehener Referent. Der Ahnherr solcher Weltbeglückungen hieß Ferdinand Lassalle, dessen »unverkürzten Arbeitslohn«, der dem Produzenten auszuzahlen sei, Marx vor über 150 Jahren als populistische Scharlatanerie blamierte.

Heinrich Harbach nimmt derlei »Theorien« methodisch geradezu vorbildlich ausein-ander. Er rekapituliert Marx’ Theorie vom Doppelcharakter der Arbeit auf eine Art und Weise, dass dieser »Springpunkt der politischen Ökonomie« auch dem wenig Vorgebildeten verständlich wird. Geradezu furios analysiert er die verschiedenen Theorien einer Politischen Ökonomie des Sozialismus sowie die Praxis in der Sowjetunion, in der DDR und in anderen Staaten des »real existierenden Sozialismus«. Heraus kommt eine schlüssige Diagnose der Dysfunktionalitäten dieses Systems und seiner schrittweisen Kapitulation vor der Marktwirtschaft.

Fritz Behrens in der DDR und Anatoli Pokrytan in der Sowjetunion zählen zu den Ausnahmen, die tiefer blickten. Ausführlich würdigt Harbach Pokrytan, dessen Arbeiten auch in der DDR veröffentlicht, jedoch nicht verstanden und deshalb nicht rezipiert wurden – um sich dann den heutigen Theoretikern einer »sozialistischen Marktwirtschaft« zuzuwenden. An ihnen lässt er nun wirklich kein gutes Haar: »In der Regel entfernen die Anhänger dieser Theorie aus dem System der kapitalistischen Warenproduktion die einer sozialistischen Entwicklung entgegenstehenden Formen und entnehmen dem ›geläuterten‹ System die für ihre Theorie brauchbaren Teile, um sie unter Benutzung makroökonomischer Planungselemente zu einer neuen Struktur zusammenzufügen … Dem eigentlichen Problem, dem Kapitalverhältnis, weichen sie aber aus. Das ist ungefähr so, als ob man einer Maschine das Schwungrad und den Treibriemen entfernt, sie per Handkurbel antreibt und glaubt, sie funktioniere weiterhin reibungslos ... Das Ergebnis ist in beiden Fällen eine geregelte Dysfunktion.«

Aus der Quantenphysik übernimmt Harbach den Begriff »Superposition«, mit der Überlagerungsstrukturen beschrieben werden: »Das heutige Gesellschaftssystem zeichnet sich immer mehr durch eine autonom verschränkte Überlagerungsstruktur zweier antagonistischer Systeme der gesellschaftlichen Arbeit aus, die mit- und durcheinander existieren ... Die Widersprüche, die sich zwischen den beiden antagonistischen Strukturen notwendig ergeben, müssen – soweit möglich – reguliert und in möglichst geordneten Bahnen ausgetragen werden.«

So abstrakt dieser Ansatz auch noch ist, in diese Richtung wird weiterzudenken sein. Das geht natürlich nur kollektiv, wie Harbach auch gleich am Anfang einräumt. Allerdings wird die öffentiche Debatte wohl vorerst ohne ihn auskommen müssen. Denn den Autor zwingen – wie etwas nebulös der Verlag in seiner Vorbemerkung schreibt – »die Markt-Umstände, sich hinter einem Pseudonym zu verbergen«.

So frei Heinrich Harbach auch denkt – der Herrschaft des Marktes bleibt also auch er unterworfen. Schade.

Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit. Karl Dietz Verlag. 224 S., br., 14,90 €

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