Warum aus der Kündigung eine Abmahnung wurde

Der Fall »Emmely« und die Folgen für Bagatellkündigungen (Teil 2)

  • Lesedauer: 4 Min.
Seit über einem Jahr existiert die Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Bagatellfällen, bekannt als »Emmely-Urteil«. Es änderte eine jahrzehntelange Rechtsprechung der Arbeitsgerichte gegen Arbeitnehmer, die sich geringer Vermögensdelikte gegen ihre Arbeitgeber haben zu schulden kommen lassen. Was ist aus der Neuorientierung durch das BAG geworden? Welche Befürchtungen und Wirkungen im Arbeitsleben zeigten sich? Unser Autor Prof. Dr. JOACHIM MICHAS ist in einer zweiteiligen Serie diesen Fragen nachgegangen. Teil 1 war vor einer Woche an dieser Stelle erschienen.

Die im Teil 1 angeführte Urteilsbegründung enthält weitere, fundierte wie sorgfältig abwägende Argumente, die das Ergebnis der Entscheidung und damit die Abkehr von der bisherigen Verfahrensweise in solchen Fällen rechtfertigten.

Die Urteile des höchsten deutschen Arbeitsgerichts sind gewissermaßen Leitlinien und nicht allgemeine Orientierungshilfen für die Rechtsprechung der unteren Gerichte. Die Rechtsprechung reagierte erwartungsgemäß kontrovers, einerseits die Neubewertung billigend, andererseits ablehnend. Es war zu erwarten, dass insbesondere die Begründung mit dem nach langer Betriebszugehörigkeit erworbenen »Vertrauenskapital« kritisch betrachtet wurde, denn darauf stellte das BAG die (Neu-) Bewertung der Bagatellfälle im wesentlichen ab.

In der Tat führt die Wertung der Betriebszugehörigkeit als Vertrauensvorrat zu Rechtsunsicherheiten in der betrieblichen wie gerichtlichen Rechtsanwendung. Zum Teil wird dies auch an der Rechtsprechung seit Juni 2010 deutlich. So maß das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg der 40-jährigen unbeanstandeten Betriebszugehörigkeit eine so hohe Bedeutung bei, dass trotz mit einer Betrugshandlung gegenüber dem Arbeitgeber erschlichenen 160 Euro die Entlassung nicht einfach bestätigt wurde. Es kam zu einem Vergleichsvorschlag (LAG-Urteil vom 16 September 2010, Az. 3 Sa 509/10).

Das LAG Schleswig-Holstein erklärte die fristlose Entlassung einer seit 18 Jahren tätigen Krankenpflegerin, die übrig gebliebene Patientenessen verzehrte (LAG-Urteil vom 29. September 2010, Az. 3 Sa 233/10), für unwirksam. Das LAG Hamm entschied zugunsten einer seit 18 Jahren im Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmerin, die mit Verdacht auf den Diebstahl von vier Frikadellen entlassen wurde, und hob die Entlassung auf (LAG-Urteil vom 4. November 2010, Az. 8 Sa 711/10).

Nach nunmehr über anderthalb Jahren geänderter BAG-Rechtsprechung ist nicht auffällig, dass die Befürchtungen auf sprunghafte Zunahme der betrieblichen Eigentumsdelikte geringen Wertes eingetreten sind. Sicher wird es Grenzfälle geben, die manche Zweifel am »aufgesparten Vertrauensvorrat« aufkommen lassen werden.

Ebenso werden Arbeitsgerichte hier und da dem Konzept des BAG weniger folgen, wie das Arbeitsgericht Köln am 26. August 2010 (Az. 6 Ca 1565/10). Dort ging es bei der Entlassung eines seit 1985 tätigen Mitarbeiters in einer gastronomischen Einrichtung und um einen sehr geringen Differenzbetrag in der Abrechnung, aber um die Art und Weise des Betrugshandelns, das das Vertrauensverhältnis »restlos zerstörte«. Das Arbeitsgericht bestätigte die Entlassung und wandte sich gegen das BAG-Konzept mit der Begründung:

»Letztlich kann auch die Interessenabwägung nicht zu einem anderen Ergebnis in dem vorliegenden Rechtsstreit führen. Denn eine noch so lange Betriebszugehörigkeit - und da ist der Entscheidung des BAG im Emmely-Fall vehement und nachdrücklich zu widersprechen - führt nicht zu einem Bonus für den betreffenden Arbeitnehmer. Denn die jahre- oder jahrzehntelange ordnungsgemäße und korrekte Kassenführung ist eine Selbstverständlichkeit und nicht eine Ausnahme, die zu einem Bonus führen könnte.« Die Prozessparteien kamen schließlich in der 2. Instanz zu einem Vergleich.

Das Arbeitsgericht Köln sah jedenfalls keine höchstrichterliche Veranlassung, von der früheren Rechtspraxis abzuweichen. Bis jetzt zeigt sich aber, dass die Mehrzahl der Arbeitsgerichte dem BAG-Konzept folgt.

Für die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse bleibt auch nach der veränderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Grundsatz bestehen, dass jegliche Eigentums- und Vermögensdelikte zum Nachteil des Arbeitgebers geeignet sind, eine fristlose Entlassung zu rechtfertigen.

Das deutsche Kündigungs- und Kündigungsschutzrecht lässt der Arbeitsgerichtsbarkeit hinreichenden Spielraum, insbesondere bei der Interessenabwägung und der Anwendung des Ultima-ratio-Prinzips (Kündigung erst als letztes Mittel), die vielfältigen Lebensvorgänge im Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen.

Das »Emmely-Urteil« des Bundesarbeitsgerichts von 2010 wird auch künftig manches Problem bereiten. Es bietet aber doch eine Möglichkeit, nach einer erstmaligen und für den betreffenden Mitarbeiter ansonsten untypischen Handlung mit Bagatelldelikt den schon lange Jahre untadelig verlaufenden Job nicht gleich zu verlieren.

Damit wird die rechtswidrige Handlung nicht gerechtfertigt. Vielmehr muss mit einer Abmahnung dafür gesorgt werden, dass das Arbeitsverhältnis künftig störungsfrei verläuft. Zweifel über die Berechtigung und die Wirkung des »Vertrauensvorrates werden, wenn es um dessen Anwendung im Einzelfall geht, bleiben.

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