Unsere Lebensart ist unser einziger Schatz!

Ein Bildungsmodell in Argentinien schöpft aus der Kultur indigener Völker

  • María Inés Zigarán
  • Lesedauer: 5 Min.
Den Indígenas eine Ausbildung anbieten, die die kulturelle Vielfalt ihrer Volksgruppe einbezieht - was so einfach und selbstverständlich klingt, ist in Argentinien noch nie versucht worden. Aber jetzt. Es ist ein Projekt von COAJ, dem Rat der Indigenen Organisationen von Jujuy und Partner vom Weltfriedensdienst (WFD).
Natalia Sarapura, die Präsidentin von COAJ: »Wir wollen das Selbstwertgefühl der Menschen steigern.«
Natalia Sarapura, die Präsidentin von COAJ: »Wir wollen das Selbstwertgefühl der Menschen steigern.«

Das argentinische Bildungssystem klammert Wissen, Sprachen und Kultur der indigenen Gemeinden in seinen Lehrplänen aus. Deshalb ergriff der Rat der Indigenen Organisationen von Jujuy (COAJ) die Initiative und schuf Raum für eine besondere Art der Bildung, die diese Folgen des argentinischen Bildungssystems mildert. Das Fachstudium »Indigene Entwicklung« gibt den traditionellen Wissensschätzen der indigenen Völker neuen Wert.

Ein originelles, einzigartiges pädagogisches Konzept ermöglicht den Mitgliedern der Gemeinden der Region Jujuy in Argentinien nicht nur, Bildung nachzuholen. Es gibt ihnen auch ganz neue Möglichkeiten für ihre persönliche Entfaltung und die Entwicklung der Gemeinschaft. Der Studiengang wird das Bildungsdefizit der indigenen Gemeinden, das der Staat zu verschulden hat, vermindern. Außerdem birgt er die Hoffnung, dass die Gemeinden in Zukunft eine andere Art der Entwicklung konzipieren. Eine Entwicklung, die die Sichtweise der indigenen Völker beinhaltet und deren Vielfalt achtet.

»Den Fachstudiengang zum Laufen zu bringen, bedeutete eine große Herausforderung für unsere Organisation. Es handelt sich hier um das erste Hochschulprogramm, das sich explizit auf die Rechte der Indígenas bezieht«, sagt Natalia Sarapura, die Präsidentin von COAJ und Verantwortliche für die Umsetzung dieses ganz besonderen Bildungsangebotes. »Wir wollen eine Ausbildung anbieten, die die kulturelle Vielfalt der Teilnehmenden einbezieht und so ihr Selbstwertgefühl steigert«, fügt Sarapura hinzu.

Dies macht den Studiengang zu einem Meilenstein bei der schwierigen Suche nach Wegen der Hochschulbildung für Indígenas. Bereichert wird der Studiengang durch eine Besonderheit. Der Lehrkörper besteht aus Lehrteams, in denen spezialisierte AkademikerInnen und SpeziallehrerInnen zusammenarbeiten. Die sechs teilnehmenden Gemeinden der Andenregion Jujuy - San Salvador de Jujuy, Tilcara, Humahuaca, Abra Pampa, La Quiaca und Libertador - stellen ihre öffentlichen Räumlichkeiten für die Lehrveranstaltungen zur Verfügung.

Obwohl besonderer Wert auf die Aneignung und Wiederbelebung kulturspezifischen Wissens gelegt wird, bleibt der Erwerb konventionellen Wissens ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung. So soll gewährleistet werden, dass die StudentInnen den Kontext, in dem sie sich institutionell, politisch und ideologisch bewegen, verstehen und ihre Ziele besser erreichen können.

Gregoria Cruz ist eine typische Studentin aus der sehr abgelegenen Gemeinde Varas. 75 Kilometer sind es bis zur nächsten größeren Gemeinde Humahuaca. Gregoria hat die Grundschule bis zur fünften Klasse in ihrem Dorf besucht, sie ist 39 Jahre alt und hat vier Kinder. Wie alle Dorfbewohner lebt sie von einfacher Landwirtschaft. Sie bestellt etwas Land und hütet Schafe, sie kann spinnen und flechten und verkauft ihr Kunsthandwerk in Humahuaca. Dort besucht sie auch die Lehrveranstaltungen des Studienganges. Sie erzählt uns, dass sie am Anfang des Studiums mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. »Es fiel mir schwer, die Texte, die ich las, zu verstehen oder beim Zuhören mitzukommen. Dabei ist das ja das Wichtigste. Aber jetzt komme ich schon besser zurecht.« »Außerdem lerne ich meine Gemeinde ganz neu zu schätzen, und erkenne, welch wichtige Dinge wir besitzen. Am Anfang lebte ich nur so vor mich hin, ohne dass mich irgendetwas interessiert hätte. Jetzt aber bin ich neugierig und habe Fragen, zum Beispiel zu unserer Geschichte. Keiner im Dorf konnte mir weiterhelfen, bis ich mich schließlich an unsere Großväter wandte. Was ich erfahre, möchte ich in einem kleinen Heft für die Gemeinde zusammentragen, damit auch die anderen mehr erfahren.«

Dass die Unterrichtseinheiten des Fachstudienganges im entfernten Humahuaca stattfinden, macht die Sache etwas kompliziert. »Meine Kinder begleiten mich und fehlen dann in der heimatlichen Schule, nur damit die Mutter studieren kann«, sagt sie. »Aber«, fügt sie hinzu, »ich bin sicher, dass es das wert ist. Ich muss viel lernen, damit ich die Situation der Gemeinde verbessern und später meine Kinder und die Dorfbewohner unterrichten kann, so dass alle anfangen, Fragen zu stellen.«

Eine der indigenen SpeziallehrerInnen ist Rebeca Camacho. Sie gehört den Guaraní an und lehrt zum Thema »Land und Territorium«, das in ihrer Muttersprache ñandereca heißt. Aufgewachsen ist sie bei ihrer Großmutter im Dorf San Pedro. Diese hinterließ ihr die Sprache Guaraní als wertvolles Erbe. »Bevor ich mich für unsere Sache, die Sache der Indígenas einsetzte, hatte ich aufgehört Guaraní zu sprechen. Als ich dann anfing, an Treffen zu Themen über Indígenas teilzunehmen, hörte ich die Sprache nach Langem wieder. Und ich bekam mit, wie Frauen für die Wiedergewinnung des Landes eintraten. Daraufhin schloss ich mich der Initiative an« sagt Rebeca mit einem begeisternden Lächeln. »Die Frauen unseres Volkes haben viele Kinder, zwischen acht und zwölf. Unsere Großmütter haben uns immer eingeschärft, dass es unsere Aufgabe wäre, die indigene Lebensart zu erhalten, denn dies sei der einzige Schatz, den wir unserem Volk hinterlassen könnten. Nur so würden unsere Gesichter nicht verloren gehen.«

Auch Eusebio Llampa ist Speziallehrer, er gehört dem Coya-Volk an. Er unterrichtet im Studiengang das Fach Quechua. Eusebio wurde in Lagunillas del Farallón geboren und ist dort aufgewachsen. Heute lebt er in Rinconada. Die Sprache seiner Familie ist Quechua. Um diese jedoch schreiben zu lernen und die Grammatik zu verstehen, musste er noch viel selbst dazulernen.

»Die Leute haben aufgehört, Quechua zu sprechen, weil es ihnen peinlich war.«, erklärt er. »Aber Quechua ist nicht völlig verschwunden. Die Sprache lebt in den Erinnerungen, in den Namen der Dörfer, in den Nachnamen der Personen, in den Wörtern und Ausdrücken, die sie benutzen.« Er schätzt den Studiengang Indigene Entwicklung als sehr bereichernde Erfahrung ein. »Die Alten teilen ihre Erinnerungen mit den StudentInnen. So werden neue Erinnerungen geschaffen. Gleichzeitig lernen die unterschiedlichen Generationen voneinander und das auf Quechua.« Eines Tages wird Quechua auch in die Lernpläne des konventionellen Unterrichts aufgenommen, hofft Eusebio. Ein Lebenstraum der unser aller Solidarität verdient.


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