Wo nicht mehr alle Broiler kennen

Der Ostberliner Stadtteil Marzahn wächst wieder - weil steigende Mieten Einwohner aus den Innenbezirken verdrängen

  • Thomas Schubert
  • Lesedauer: 5 Min.
Mietflüchtlinge aus teuren Teilen Berlins bevölkern Marzahn. Einige gingen nie weg, andere werden noch kommen. Eine Wiederentdeckung.
Ein Anziehungspunkt für Käufer, Schaulustige und Bummler ist das East Gate an der Marzahner Promenade.
Ein Anziehungspunkt für Käufer, Schaulustige und Bummler ist das East Gate an der Marzahner Promenade.

Der Flachbild-Fernseher zeigt Arte. Und Don Pasquale, dieser heiratswillige Junggeselle, erprobt die Akustik auf der Mattscheibe, hier oben im zehnten Stock von elfen, schmettert seine Arien nur für Manfred Hofmann und Arik, den kratzbürstigen Rüden. Der blafft sich beim Anblick von Fremden die Angst aus dem Leibe. Auch Hofmann ist Junggeselle. Er liebte in 72 Jahren nichts mehr als die Kunst.

Knapp unter der Dachkante des ältesten Platten-Trumms in der Marchwitzastraße, dem allerersten Hochhaus von Marzahn, erlebt der Kulturliebende nicht viel, was Arik blaffen ließe. Aber diese Ruhe. Dieser Ausblick. Die S-Bahn-Station Springpfuhl so nah. An klaren Tagen spähen Hofmanns wache, jung gebliebene Augen bis hinaus zum Müggelturm. Seitdem die Zwillingshäuser an der »Südspitze« zu Boden gingen und Dutzende Baumkronen ihren grünen Saum entlang der übrigen Wohnriesen immer höher legten, ist es wieder ein bisschen wie damals.

1978 entschied man sich mit dem Leben im werdenden Marzahn für eine Nachbarschaft mit Feldern, Wald und Wiesen. Dann kamen die Kräne, und man löste die »Wohnungsfrage« auf eine Weise, die Hofmann niemals falsch erschien. Nachbarschaftsfeste, eine symbolische Miete - und viel Muße für Opern im beinahe obersten Stock. »Wirklich schön ist Marzahn jedoch erst heute«, sagt der Ersteinwohner und schwärmt von seinen Klapprad-Touren in die Gärten der Welt. Hofmann war immer da, kennt die Großsiedlung seit der Stunde null, erlebte die Blütejahre in den 80ern - und das Ausbluten nach der Wende.

Warum so viele gingen? »Es war das Gerede«, glaubt der Zeuge des Auf- und Niedergangs. »Alle sprachen plötzlich nur noch von Abriss und Renovierung.« Er selbst widerstand der Angst vor dem neuerlichen Anrücken der Gerüstbauer und Kräne, sah Fassaden in rot getupfter oder himmelblauer Fröhlichkeit erstrahlen. Erst zum Schluss, im Jahre 2010, sanierte man sein eigenes Hochhaus, als müssten die Ersten die Letzten sein. Dass die Monatsmiete im Gegenzug um 30 Euro stieg, nahm Hofmann hin, wie er es ohnehin ablehnt, sich über etwas zu sorgen, was nicht seinem Einfluss unterliegt. »Was nutzt denn Angst?«, fragt er. Ein Lächeln legt seine Augenwinkel in Falten.

Dabei ist die andernorts wachsende Furcht vor der Mietabrechnung durchaus etwas, das Marzahner Wohnungsgesellschaften in die Hände spielt. Bei der »Degewo« zeigen die Planer stolz auf eine fallende Kurve, wonach der Leerstand im gesamten Großsiedlungsgebiet binnen fünf Jahren von 8,5 auf 4,5 Prozent zusammenschmolz. Und wer abends am Helene-Weigel-Platz der Straßenbahn entsteigt, trifft im »Broiler Haus« plötzlich auf Friedrichshainer, Lichtenberger, Pankower - ja, lässt sich von jemandem bedienen, der dazu steht, nicht zu wissen, was ein Broiler ist.

Memet Oktei säbelt sowieso häufiger an Dönerbatzen, als am Hähnchenspieß zu drehen. Und gelegentlich klagt er den Kunden das Leid eines aus seinem Innenstadtbezirk Verdrängten. »In Neukölln ist es mir einfach zu teuer geworden«, bedauert der 37-jährige Maler. Nun arbeitet er eben als Grillmaster an der Allee der Kosmonauten, fährt erst spät abends heim nach Oberschöneweide. Das traute Neukölln-Gefühl ließ sich einfach nicht in Umzugskisten packen. Es blieb am Hermannplatz zurück. Jetzt quittiert man den Erhalt des Snacks mit mürrischem Gebrumme. »Ein Dankeschön würde ich gerne häufiger hören«, wünscht sich der Neuling vom alten Marzahn.

Lange Wege, weg müssen vom angestammten Kiez. Auch Gamedesign-Student Janek ist einer der Neuen im kubischen Refugium Berlins, kehrte dem angesagten »Kreukölln« mit seinen Staffelmieten den Rücken, kannte von vornherein keine Vorbehalte gegen die sozialistische Platte. »Mit den vielen Grünflächen ist es an sich sogar schöner«, befindet der 22-Jährige und freut sich über den Zusammenzug mit seiner Freundin. Das bedeutet für ihn eine Ersparnis von 300 Euro im Monat, aber eine Verdreifachung der Anfahrtszeit zur Hochschule.

Dass mietsensible Berliner so weit in die Ferne schweifen, hält Reiner Wild eher für eine Ausnahme. Die Abwanderung vollziehe sich momentan in engeren Kreisen, berichtet der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins. Wem Pankow über den Kopf wachse, der gehe in den Wedding, während Marzahn-Hellersdorf speziell auf Menschen der benachbarten Ost-Bezirke reizvoll wirke. Oder auf Zuwanderer aus Polen. Es sei allerdings nicht auszuschließen, dass die Mieterwanderung künftig großflächigere Veränderungen zeitigen werde: »Irgendwann wird der Druck sicher steigen.«

Sind City-Golf-Wiesen in Ahrensfelde und Bio-Naturkost-Läden in ehemaligen Kaufhallen etwa doch Vorboten der Dinge, die da kommen, von weiter innen? Marion Augustin vom Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf beobachtet die Lage noch mit Vorsicht, sieht zumindest den Bevölkerungsschwund gestoppt. Von einer »Trendwende nach 16 Jahren« ist die Rede, angesichts der 2060 Neubürger im vergangenen Jahr.

Marzahn wächst wieder. Es wächst am unteren wie am oberen Ende der Alterspyramide, bietet den Jüngsten einen Spielplatz, den Ältesten einen Lift. Es wird auch multikultureller. 6,6 Prozent mehr Migranten in Augustins Liste bedeutet übersetzt ins Imbiss-Deutsch: etwas weniger Broiler, dafür mehr Döner und Borschtsch.

»Ureinwohner« Manfred Hofmann liebt auch russische Opern, betrachtet das Gerangel um günstigen Wohnraum unverrückbar vom zehnten Stock herab. Auch wenn er sich nicht eben häufig nach Kreuzberg oder Neukölln begibt, fühlt er doch mit Janek, Memet und denen, die noch kommen mögen. »Die Berliner lieben ihre Stadt«, sagt der Junggeselle und streichelt Ariks struppige Flanke. »Aber wenn es im Herzen der Stadt nur noch Luxus und Büros gibt, was sollen sie dann lieben?«

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