• Politik
  • Jahr der Genossenschaften

»Genossenschaften sind eine Reaktion auf Politikverdrossenheit«

Der Freiburger Soziologe Burghard Flieger über Daseinsvorsorge und das wachsende Interesse, sich einzumischen

  • Lesedauer: 3 Min.
Burghard Flieger ist Vorstand und wissenschaftlicher Leiter der innova eG Entwicklungspartnerschaft für Selbsthilfegenossenschaften. Über den Trend, Genossenschaften zu gründen, sprach Haidy Damm mit dem Freiburger Soziologen.
Jahr der Genossenschaften: »Genossenschaften sind eine Reaktion auf Politikverdrossenheit«

nd: Nach Angaben der UNO gibt es weltweit 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in mehr als 100 Ländern. Welche Rolle spielen Genossenschaften in Deutschland?
Flieger: In bestimmten Bereichen spielen sie eine relativ wichtige Rolle: Im Finanzbereich, in der Landwirtschaft, im Wohnsektor und im Handelssektor, also Einkauf und Vertrieb. Da gibt es große genossenschaftliche Zusammenschlüsse.

Nimmt das Interesse zu?
Ich beobachte generell einen Wandel der Einstellung. Wenn ich früher Vorträge zum Thema Genossenschaften gemacht habe, dann war das ganz nett, weil da 20, 30 Leute kamen. Heute kommen schnell über 100 Leute zusammen. Wir hatten vor zwei Jahren den Kongress »Solidarische Ökonomie«, da waren 600 Teilnehmer. Das Interesse am Thema hat also erheblich zugenommen.

Woran liegt das?
Zum einen bringen die Genossenschaften in einigen Branchen reale Vorteile mit sich, etwa im Energiebereich. Zum anderen ist das Interesse vieler Bürger mittlerweile hoch, weil sie sich tatsächlich einmischen und nicht auf die einfache Mitsprache reduziert werden wollen. Sie fordern formal rechtlichen Einfluss und wollen Ökonomie und Mitsprache verbinden. Da gibt es keine bessere Organisationsform als die Genossenschaft.

Warum?
Einmal ist die Mitsprache nicht am Kapital orientiert, also nicht an der Höhe der Einlagen, sondern jedes Mitglied ist gleichberechtigt. Und das andere ist - man spricht von einem Doppelcharakter -, die Genossenschaft ist Wirtschafts- und Sozialorganisation. Als Wirtschaftsorganisation muss sie sich ökonomisch verantwortlich verhalten. Als Sozialorganisation beteiligt sie sich als Teil der Kommune an der Daseinsfürsorge: sie sichert beispielsweise die Lebensmittelversorgung durch den Dorfladen oder die umweltverträgliche Energieversorgung am Ort. Diese Doppelfunktion gibt es mit keiner anderen Unternehmensform.

Steckt dahinter ein politischer Trend? Widerspricht das nicht der angeblichen Politikverdrossenheit?
Nein, das ist eine Reaktion auf die Politikverdrossenheit. Man will nicht die Politiker alleine entscheiden lassen, sondern man will Einfluss nehmen. Die meisten Politiker sind ja schon in Ordnung, aber die Politik zieht auch bestimmte Leute an, die sich Vorteile organisieren. Daraus resultiert meiner Meinung nach die Politikverdrossenheit. In einer Genossenschaft aber können die Mitglieder den Vorstand notfalls abwählen, dadurch haben sie Einfluss. Ein Politiker ist in der Regel nicht kurzfristig abwählbar.

Sie sprachen davon, dass sich Genossenschaften im Energiebereich besonders eignen. Warum?
Es gibt vier Gründe, warum im Energiebereich mittlerweile ein kleiner Boom entstanden ist. Einmal sind Genossenschaften von der sogenannten Prospektpflicht ausgenommen. Hierdurch sind sie finanziell privilegiert, denn die Prospekte kosten schnell 10 000 Euro und mehr. Zum Zweiten gibt es durch das Erneuerbare Energien Gesetz eine relativ sichere Vergütung für Energieanlagen, die den Betrieb wirtschaftlich macht. Drittens wollen die Bürger ihre Belange in der Daseinsvorsorge selber in die Hand nehmen. Und der vierte Grund ist, das Genossenschaftsgesetz wurde 2006 modifiziert und entbürokratisiert. Diese vier Punkte zusammen führen dazu, dass man im Energiebereich regelrecht von einer Gründungswelle sprechen kann.

Lässt sich das in Zahlen ausdrücken?
Seit 2007 haben sich etwa 300 neue Energiegenossenschaften gegründet, mit wachsender Tendenz. Anfangs waren es 30, 40, jetzt werden es immer mehr. Ich gehe davon aus, das gilt auch für 2012.

Sie beraten auch Interessierte, die eine Genossenschaft gründen wollen.
Wir und andere Organisationen machen Qualifizierungen, um Energiegenossenschaften fundiert auf die Beine zu stellen. Das besondere ist, dass die Teilnehmer eine Energiegenossenschaft gründen, während sie lernen. Sie arbeiten in Gruppen, tauschen sich also sehr intensiv aus und werden gleichzeitig unterstützt. Das macht das System sehr wirkungsvoll und trägt sicher auch dazu bei, dass sich mehr und mehr Genossenschaften in diesem Bereich gründen.

Infos unter: www.energiegenossenschaften-gruenden.de

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal