Angst vor der Freiheit

Junge Kopten in Ägypten fürchten wachsenden Hass und Übergriffe

  • Andreas Boueke, Kairo
  • Lesedauer: 6 Min.
Seit der Despot Husni Mubarak gestürzt wurde, haben die Ägypter viele neue Freiheiten gewonnen. Während der Übergangsphase zu einer neuen politischen Ordnung leiden jedoch besonders die Kopten unter einem Klima der Unsicherheit.
Tausende Ägypter – Muslime und Christen – gedachten in der Silvesternacht gemeinsam der bei der Revolution Getöteten. AFP/Khaled Desouki
Tausende Ägypter – Muslime und Christen – gedachten in der Silvesternacht gemeinsam der bei der Revolution Getöteten. AFP/Khaled Desouki

»Sieh dir das an!« Aufgeregt rutscht der 18-jährige Mena auf seinem Stuhl nach vorn. Nervös tippt er mit dem Zeigefinger auf den Computerbildschirm. Zu sehen ist ein Video auf Youtube. Soldaten treten auf einen leblosen Körper ein. »Dieser Mann ist tot. Sie haben ihn umgebracht. Er ist schon tot, aber sie trotzdem machen weiter.«

Neben Mena sitzt sein Bruder Abanoub. Auch er blickt bestürzt auf den Bildschirm: »So etwas ist während der Revolution vom 25. Januar nie passiert. Damals wusste Mubarak, dass Muslime unter den Demonstranten waren. Er wollte keine Muslime töten. Aber bei Christen geht das in Ordnung. Da gibt es eine Erlaubnis zu töten.«

Abanoub Tharwat ist vor wenigen Tagen 20 Jahre alt geworden. Der schmächtige Mann gehört zu den jungen Ägyptern, die Präsident Husni Mubarak mit Hilfe des Internets stürzten. Aber noch wichtiger als sein politisches Engagement ist ihm der Glaube. Abanoub ist Kopte, Angehöriger der orthodoxen christlichen Kirche Ägyptens. Auch deshalb ist seine Bewertung der Entwicklung Ägyptens seit der Revolution nicht durchweg positiv.

Das Trauma von Maspiro

Das Ende der Ära Mubarak hat der Bevölkerung nicht nur Freiheiten gebracht, sondern auch neue Gefahren und Unsicherheit. Darunter leiden besonders Kopten. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Übergriffen auf Christen. Zuletzt gab es bei einer Demonstration vor dem staatlichen TV-Gebäude Maspiro im Zentrum von Kairo gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen hauptsächlich koptischen Protestierenden und dem Militär. 25 Menschen kamen an jenem 9. Oktober 2011 ums Leben. Demonstranten sprachen von einem Massaker. Auch Abanoub war dabei. »Es gab einen Befehl, Christen aufzuhalten. Dann begannen die Leute, uns zu schlagen. Es wurde gesagt, Christen würden dort mit Pistolen Soldaten töten. Aber am Ende waren 24 Christen tot und nur ein Soldat der Armee«, sagt der junge Mann.

Auch Abanoub wurde misshandelt, doch davon erzählt er nicht gern. In der koptischen Tradition hat das Märtyrertum eine große Bedeutung. Abanoub sagt, er würde eher sein Leben opfern, als seinen Glauben zu verleugnen. »Ich habe keine Angst davor, getötet zu werden. Ich sehe das so: Dies ist ein kurzes Leben. Nur - meine Mutter wäre sehr, sehr traurig, wenn ich stürbe.«

Abanoubs Cousine Cristina, 23 Jahre, kommt ins Zimmer. »Ich habe Angst. Wenn diese Strategie, die Muslime aufzuwiegeln, funktioniert, dann werden sie auf die Kopten losgehen und sie töten wollen. Doch es gibt auch Muslime, die auf unserer Seite sind.«

Cristina betont, dass es in letzter Zeit Ereignisse gegeben habe, die Christen hoffnungsvoll stimmen können. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und spielt ein Video ab. Auf dem kleinen Bildschirm ist ein Platz voller Menschen zu sehen. Über deren Köpfen fliegt ein Lichtpunkt. Cristina ist überzeugt, dass dieses Licht der Jungfrau Maria gehört. »Etwa zwei Wochen nach dem Massaker von Maspiro ist die Jungfrau Maria erschienen, an verschiedenen Orten in Ägypten. Viele unserer Freunde haben Maria gesehen. Sie trug ein blaues Kleid und stand im Himmel. Sie ist gekommen, um uns Hoffnung, Liebe und Frieden zu geben.«

Auch unter intellektuellen Kopten ist es verbreitet, an Marienerscheinungen, Teufelsaustreibungen und Wunderheilungen zu glauben. »Hier in Ägypten wissen wir, dass die Jungfrau Maria erscheint, wenn irgendetwas geschehen wird«, erläutert Cristina. »Vielleicht ist es wie eine Kraft vom Himmel, die neben uns steht und sagt: Mach weiter.«

Abanoub hat im Internet noch weitere Videos von den Ereignissen vor dem Maspiro-Hochhaus gefunden. Zu sehen sind grausame Bilder. Junge Menschen werden gezielt erschossen. Ein Panzer fährt direkt auf eine Gruppe Demonstranten und begräbt mehrere unter seinen Kettenrädern.

Abanoub ist nicht nur wütend über die brachiale Gewalt der Soldaten gegenüber den protestierenden Christen, sondern mindestens ebenso sehr über die fehlende juristische Aufarbeitung der Geschehnisse.

Ungestrafte Gewalttaten

»Die Ergebnisse waren beschämend. Kein Soldat ist verhaftet worden. Nichts wurde unternommen gegen jene, die in die Kirchen eingebrochen sind, sie zerstört und angezündet haben. Seit der Revolution sind fünf oder sechs Kirchen zerstört worden.«

Abanoubs Familie kann zur gesellschaftlichen Mittelklasse in der arabischen Republik gezählt werden. Sein Großvater war Baumeister. Das Gebäude, in dem die Familie über fünf Stockwerke wohnt, hat er selbst errichtet. Es steht in Heluan, einem besonders dicht bevölkerten Vorort im Süden des acht Millionen Einwohner zählenden Metropolenkerns von Kairo. Die Ufer des Nils gehören zu den am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. 95 Prozent der über 80 Millionen Ägypter leben im Nildelta auf nur vier Prozent der Fläche des Landes. Auf zehn Prozent wird der Anteil der Christen an der Bevölkerung geschätzt.

Die meisten Menschen in Heluan wohnen in vielstöckigen Gebäuden, einige ragen bis zu 20 Etagen hoch. Obwohl viele nur halbfertig gebaut sind, werden sie längst von Menschen bewohnt, die sich nur unter diesen Umständen den Traum von ein wenig Privatheit leisten können.

Viele Nachbarn von Abanoub sind Muslime, viele seiner Freunde ebenso. Dennoch ist er besorgt. »Vor der Revolution gab es jemanden, der die Regeln machte. Das war Mubarak. Wenn irgendwas schlecht lief, dann haben wir ihn dafür verantwortlich gemacht. Jetzt gibt es keine Regeln mehr. Niemand wird dich davon abhalten, jemanden auf offener Straße umzubringen.« Abanoub fühlt sich immer stärker auch im Alltag bedroht. »Ich habe Angst, in dem Laden neben meinem Haus einzukaufen, weil der Verkäufer weiß, dass ich Christ bin und er mich deswegen hasst. Das hat er mir so gesagt.«

Nach dem Abendessen gehen Abanoub und Mena zu ihrer Kirche. Sie liegt nur ein paar Straßen entfernt. »Die Kirche ist das Schiff, das uns alle durch die Welt bis zu Gott führt,« sagt Mena. »Sie ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich komme an drei oder vier Tagen der Woche hierher. Hier habe ich Hunderte Freunde.«

Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Die Eingangstür ist bereits verschlossen. Abanoub ruft durch einen Spalt nach dem Hausmeister. Der bäckt noch Brot in der Küche neben der Eingangshalle. Bereitwillig kommt der alte Mann zur Tür und schließt auf.

Zu Hause in der Kirche

Die beiden jungen Männer laufen durch die Gänge, als ob es ihr Haus wäre. Mena öffnet eine schwere Holztür, geht in das Dunkel eines großen Saals und legt eine Reihe Schalter um. Der Gottesdienstraum erfüllt sich mit Licht. »Dieses Haus wird sich nie vor mir verschließen. Ich werde mein ganzes Leben lang hier bleiben. Das Haus meiner Eltern werde ich eines Tages verlassen, aber die Kirche nie. Ich werde immer ein Teil von ihr sein«, sagt Mena.

Trotz der späten Stunde steigen die beiden jungen Männer noch einmal in einen Waggon der modernen Metro Kairos. Die Passagiere sind fast ausschließlich Männer. Die meisten Frauen fahren in einem eigens für sie eingerichteten Abteil, wo sie sich vor Übergriffen durch Männer sicher fühlen sollen.

Abanoub und Mena steigen am Tahrir-Platz aus, am zentralen Ort der politischen Proteste im Land. Eine Gruppe Jugendlicher tanzt am Straßenrand. Ein paar Meter weiter stehen einige einfache Stühle und Tische auf dem Bürgersteig. Selbst zu dieser späten Stunde werden noch Tee, Kaffee und süßes Brot verkauft. Ein paar ältere Männer spielen Brettspiele.

Hier fühlen sich Abanoub und Mena wohl. Es gehe nicht darum, wer der neue Präsident werde. Es sei auch nicht die Frage, wer die Christen verteidigt und wer die Muslime. »Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir das gesamte System ändern. Wir müssen uns selbst ändern. Nur so werden wir ein demokratisches Ägypten aufbauen können.«

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