Weißglut. Finsternis.

Groß! »Medea« am schauspielfrankfurt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Weißglut. Finsternis.

Auf einem Vorsprung in der Wand, die sehr weit hinten, über die gesamte Brandmauer der Bühne ihr Schwarz ausbreitet, steht Medea. Steht wie ein zerknacktes Rückgrat. Oder gekrümmt wie Fleisch, das sich im Fegefeuer aufbiegt. Liegt wie zertreten. Steht wieder auf, windet sich aus einem Kauern, das aussieht, als erlebe da ein Mensch, was Tierangst ist.

Wie sie da würgt am eigenen Klagen! Holt sich Wort für Wort auf die Zunge, um ein jedes mit den Zähnen zu reißen und den Menschen da unten entgegenzuspeien. Worte wie etwas blutiges Rohes.

Sie brüllt, lacht, zischt, bellt (irr komödiantische Katze), dann klingt es, als miaue sie (die listige Hündin). Den Anfang machten Schreie, dass selbst grausamste Folterinstrumente neidisch einander zuraunen würden: Hört nur, welch Quäl-Meister ist da am Werke?!

Eine Meisterin: Die große Constanze Becker ist Medea. Sie spielt Seele, ohne je einen Vorgang, eine Situation zu zerseelen; und im Herben verhärtet sie nicht. Aber ihre Aura kann die des scharfen Sandstrahls sein. Wenn sie zwischen Ja und Nein zum Kindermord hin- und hergerissen tobt und winselt, dann zeigt uns die Ent-Artung, wie sie auf brennendsten Schmerzwegen einen Menschenkörper, ein Herz betritt, als sei das ein Siegerpodest.

Medea ist das absolut ins einsam Kosmische gerückte Wesen, dort hinten so klebend, klaubend, kriechend; wie klatschend an die Wand geworfen, vor der sie schwitzt, stöhnt, irre klar herabblickt. Euripides' Stück ist für das Publikum am Frankfurter Schauspielhaus wahrlich - Fern-Sehen; in einem erschütternden Sinne unheimlich. Als Frau ist Medea: tief unten. Aber doch weit oben: als Meteorit, der einschlagen wird.

Ein Modellfall des Unbegreiflichen: Medea, von Jason verstoßen, ermordet die beiden Kinder dieser Beziehung. Das ist so wenig fassbar wie der Hass des Jago auf Othello. Keine Interpretationsanleihe wird hier genommen beim handelsüblichen Bewältigungswortschatz: Emanzipation, Würdetat der Barbarin, Frauenrecht, dieser ganze Anstrengungsmüll, um uralte Tragödien auf unsere Aktualitäten herunter zu zerren - Euripides ist hier mehr als nur ein weit vorgeschalteter Flaggschreiber des Feminismus. Zuschauend sitzt du schaudernd vor den Möglichkeiten, die aus untröstlichen Lagen erwachsen können.

Der meißelnde, hart schneidende Regisseur Michael Thalheimer bietet auf der Bühne von Olaf Altmann ein Gastspiel aus sehr eisigen Gegenden, aus jener »leeren Mitte«, von der Heiner Müller schrieb. Mit der Vernichtung der liebsten Kinderkörper - eine lehrhafte Grausamkeit wider den Mann des Verrats - löscht sich Medea zugleich die eigene Seele aus. Sie schafft die Welt ab. Oder gibt ihr die endgültige Balance: Zeugung und Zerschlagung treiben beide gleichermaßen das Menschenreich voran. An Kindern ist dies Unvereinbare, das so grässlich zusammengehört, die Geburt nämlich und der Totschlag, am sinnfälligsten zu zelebrieren. Der Fall gerät deshalb zur außerordentlichen Begreifenspein.

Thalheimer vollzieht in düsterer Ergebenheit, als leite er einen rituellen Zug durch dunkelste Straßen, den Auftrag der Kunst, und der fordert immerwährende Arbeit, um Tortur und Qual ins Bild zu setzen - das genau ist das Rad, auf das sich die schöpferische Fantasie stets von neuem spannen muss. Um durch die Bußleistung schlimmster Erzählungen wenigstens selber schuldlos zu sein. Schuldlos in all den Schrecken, die sich unweigerlich vorbereiten im Schatten jedes Lichts, in dem ein Mensch die Welt erblickt.

Medea fern, überhöht in ihrem Schicksalsdreck. Vorn aber, ganz nah, kommen sie von der Seitenbühne. Kurze Auftritte. Der Gewissens-Gedrückten. Der moralisch Versehrten. Der Verfluchten und Hilflosen. König Kreon (Martin Rentzsch), der diese Medea aus Korinth verbannt: belfernd strafende Strenge, die unterm Anzug des Mannes doch feige, frierende Gänsehaut ahnen lässt. Der fremde Landesherr Aigeus (Michael Benthin), der Medea Asyl geben wird, wenn sie ihm endlich auch Nachkommen schafft; ein angeschmutzter Müdling, Königtum als ödes Privileg, herrschend zu verdämmern. Dann der vom Wahn angerempelte Bote (Viktor Tremmel), der den Feuerfraßtod von Jasons neuer Frau und ihrem Vater Kreon berichtet - die Brautgeschenke Medeas als entsetzlichste Mordwerkzeuge; mit einer Hand fasst sich der Bote an die vollgepisste Angstschlotterhose, als gebe es noch irgend was bei so viel Hässlichem, das man verbergen müsse. Einzig in Würde: der Chor der korinthischen Frauen; Bettina Hoppe spricht ihn ganz allein: Der Mensch, der Einhalt gebieten will, ist immer der traurigste Mensch.

Der Jason des faszinierend schillernden Marc Oliver Schulze: im geschmacklos blauen Anzug eine ranke Lächerlichkeitsfigur. Und doch gelingt es Schulze, diesen Verräter glaubhaft zu machen, als einen Gejagten des Standesgemäßen, als einen Rationalisten der hierarchischen Chancen - der gesteht, Medeas leidenschaftlicher Liebe eh nie gewachsen gewesen zu sein. Die schmale Schulter des jämmerlich Biederen kann Großes nicht tragen - nur blaue Anzüge.

Plötzlich rückt der Wandfels mit Medea nach vorn. Wie eine Front Panzer. Langsam, sehr langsam: Das Zerquetschen der Welt ist ein Ritus, der Eile nicht verträgt, der Eile nicht nötig hat. Theater ist wahrlich: Maschinerie. So wie die Wand kommt, kommen Urgewalten auf. Jason muss zurückweichen. Er steht am Ende nur noch auf knappster Fläche, die ihn vorm Sturz ins Publikum schützt. Halt suchend, klebt er geradezu an der hohen senkrechten Fläche, die da anrückt; der Mensch sieht in solcher Pose erbärmlicher aus als eine Fliege.

Die Inszenierung zeigt die Kinder nicht. Bert Wrede aber dreht eine klopfende, dann ungemein eiserne, nein gemein eiserne Gitarrenmusik auf; dazu wird - Moment des Mordes - eine immer schneller werdende Galerie von Piktogrammen auf die Wand, auf Medeas Körper projiziert: Zeichen für Stationen von der Wiege bis zur Bahre, Kindheit, Familie, Leben eben, das leben darf. Aus einem der Piktogramme tropft eine Träne. Die wehe Kitschsekunde tut unbegreiflich gut.

Dann fährt der Wandvorsprung, Medeas Ort, herunter, und bald sehen wir sie sauber, frisurbereinigt, im kurzen schwarzen Kleid. Zivilisationsgefasst. Frau up to date. Auf dem Bühnenboden steht sie wie auf dem Boden ganz neuer Tatsachen. So geht man aus den Verbrechen heraus, wenn man noch nie etwas hörte vom Wort Sühne. Sie wird es vielleicht nie hören, in den Kreisen, wo man solche Kleider trägt. Das Edle ist das Triumphierende. Triumph ist ein Kältegrad wie Töten. Das Schlimme höret nimmer auf. Medea steigt über einen blutbesudelten Jason, der am Boden herumwürmt. Medea schrie, am Anfang - Jason nun krächzt sich fast unhörbar ins Verrecken.

Thalheimer hat ein Requiem komponiert aus rhythmisch genau gesetzten Tönen, Farben (fahlgrau, kassandraschwarz, weißglühend). Für Überraschungsmomente, da etwas umschlägt in Tonlage und Lichtfärbung, lässt er sich trotz knapper zwei Stunden Spiel viel, viel Zeit. Minutenlang hatte sich die Amme (Josefin Platt) anfangs auf Kothurnenfüßen zur Wand gestampft, schwankend wie auf einem Seil, das ins finster Bodenlose gespannt ist. Das Zuschauen wird zu einem Gefühl, als krieche Urgeschichte in dir hoch. Sie sieht sich um in dir. Kennt sich aus in deiner Seele? Wer weiß. So, wie diese Aufführung blickt, so schaute der Major Kurtz des Joseph Conrad aus dem Blutschaum des Krieges zurück zu den Menschen, und was er sah, war doch immer das Gleiche, und was am Leben mitteilenswert war, passte in einen einzigen Satz: »Ich habe das Grauen gesehen.«

Nächste Vorstellungen: 2., 3. Mai

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