Bifokale Linsen

Jehoschua Kenaz: »Die Nachmittagsvorstellung«

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Dafür, dass die Erzählung als eigenständiges Genre zu neuem Aufschwung angesetzt hat, stehen Sammlungen wie »Der Stein« des Schweizers Franz Hohler oder »Zu viel Glück« der Kanadierin Alice Munro. Auch das jüngste Buch des israelischen Autors Jehoschua Kenaz (geb. 1937) ist ein Beleg dafür.

Kenaz lauscht seine Geschichten dem faden(scheinigen) Alltag ab. »Die unwichtigsten Dinge wissen wir, aber nicht die schicksalhaften«, heißt es an einer Stelle, »nichts von ihren Geheimnissen, die Einfluss auf unser Leben nehmen können - oder auf unseren Tod«. Leben in Israel ist mehr als anderswo Erinnerung. Gleich der erste Text »Wildes Fleisch, fremdes Fleisch« zeigt die Unfähigkeit einer Familie, die traumatische Erfahrung einer Holocaust-Überlebenden zu akzeptieren. (»Und warum haben wir sie am Hals?«) Klara Hofmann, die Cousine, ist gefangen in der Vorstellung, in ihrem Körper wachse wildes Fleisch. Das Fleisch der Deutschen. Sie zeigt jedem vermeintliche Wucherungen. Den Vorhaltungen, sich nicht so wichtig zu nehmen, hält sie ihren unverrückbaren Standpunkt entgegen: »Mir ist wichtig, was mir passiert ist. Und darüber muss ich reden.« So sprengt Klara die Konventionen einer eingeredeten Normalität.

In den gelungensten Passagen erhält der Leser den Eindruck, er bewege sich mit dem Erzähler im Dunstkreis seiner Figuren: als zufälliger Gast in »Das Fest«, als Sohn in »Zimmer Nummer 10«, als Freund in »Amram«. Er fühlt ihre Schmerzen, ihre Melancholie, ihre Verlorenheit, den Verschleiß auch der Gefühle. Er weint über ihr flüchtiges Glück, ihre Anstrengung, sich freizustrampeln oder den schnöden Anschein zu wahren. Diese Haltung zum Vorgefundenen erlaubt dem Autor das perspektivische Gleiten zwischen Nah- und Fernsicht, als trage er wie der erschreckte Alte in »Die Wohnung mit Eingang im Hof« eine Brille mit bifokalen Linsen. Seine Blickwinkel fokussieren das Leben in seiner bizarren Ausweglosigkeit, machen auch keinen Halt vor allseits respektierten Institutionen. So legt »Der Fall Scheizaf« den fein justierten Mechanismus von Anpassung und subtilem Druck in der Armee frei. Die verbreitete Doppelmoral führt hingegen die Protagonisten der Titelgeschichte zu einer sinistren Verabredung. Sie gönnen sich einen Pornofilm und gelangen in einer grotesken Verselbstständigung des Geschehens nie über dessen Vorspann hinaus.

Kenaz’ Erzählungen nehmen Anteil am individuellen Schicksal, indem er es seiner Ausreden und Selbsttäuschungen entblößt. Derart gelingen ihm beglückende Einsichten. »Warum war es ihm so wichtig zu wissen, ob die Erinnerung der Wirklichkeit oder einem Traum entsprang?«, heißt es über den kleinen Zwicka, der in »Ein toter Moment im Gedächtnis« die Ängste eines Heranwachsenden zu bekämpfen hat. »Vielleicht weil er noch nicht alt genug war, um zu wissen, dass im Prinzip kein Unterschied bestand.« In solchen und vielen anderen Sequenzen nimmt der noble Gestus eines Autors Gestalt an, der weder Mitleid noch andere Exzentrizitäten evozieren muss, da er die Erinnerungslandschaften seiner Menschen in große Literatur verwandelt.

Jehoschua Kenaz: Die Nachmittagsvorstellung. Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Luchterhand Literaturverlag. 272 S., geb., 18,99 €.

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