Gedicht der Schöpfung

Henry David Thoreau und seine Suche nach den wesentlichen Dingen des Lebens

  • Alexander Pechmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Henry David Thoreau, geboren am 12. Juli 1817, gestorben am 6. Mai 1862, US-amerikanischer Schriftsteller und Philosoph
Henry David Thoreau, geboren am 12. Juli 1817, gestorben am 6. Mai 1862, US-amerikanischer Schriftsteller und Philosoph

»Kein anderer Schriftsteller hat für die Unabhängigkeit des amerikanischen Denkens mehr geleistet«, schrieb der Literaturwissenschaftler Fred Pattee über Henry David Thoreau, der deutschsprachigen Lesern vor allem durch sein Hauptwerk »Walden« bekannt sein dürfte. In diesem vielzitierten Buch stellte der Autor sein Leben als Selbstversorger in einer einsamen Hütte am Waldensee dar - ein mutiger Gegenentwurf zu einer konsumorientierten, der Natur entfremdeten Massengesellschaft.

Der erst im 20. Jahrhundert einsetzende Erfolg von »Walden«, der sich wohl einer zunehmenden Zivilisationsmüdigkeit und Suche nach alternativen Lebensstilen verdankte, hat freilich auch dazu geführt, den Blick auf Thoreau zu verengen und in ihm eher einen Vorreiter der Naturschutzbewegung und der Konsumkritik zu sehen als einen ebenso originellen wie widersprüchlichen Denker, der keine »ewigen Wahrheiten« verkünden, sondern vielmehr neue Wege wagen und erkunden wollte, die durch religiöse Dogmen und gesellschaftliche Zwänge verbaut worden waren.

Thoreau hat sich nie der Illusion hingegeben, er könne ein großes Publikum erreichen. Wenn er schrieb, dann meist für sich selbst in sein Tagebuch, das er im Alter von zwanzig Jahren begann und das am Ende seines Lebens mehr als sechstausend Seiten umfasste. Obwohl er diese Aufzeichnungen immer wieder als Quelle für Essays und Vorträge nutzte, waren ihm Bücher und Literatur nie so wichtig wie die unmittelbare Erfahrung und Erforschung seiner Welt, das Erweitern seiner Fähigkeiten und Ausloten seiner physischen Grenzen: »Ich möchte so sein wie ihr, meine Wälder«, notierte er im Dezember 1841, »und werde nicht eher ruhen, bis ich eure Unschuld erlangt habe.«

Wenige Wochen nach dieser Notiz starb sein geliebter Bruder John an Wundstarrkrampf. Die beiden waren unzertrennlich gewesen und hatten mit beachtlichem Erfolg eine Privatschule gegründet, nachdem Henry Thoreau seine Lehrtätigkeit an der Volksschule in Concord hatte aufgeben müssen. Man hatte ihn dort unablässig kritisiert, weil er sich hartnäckig weigerte, seine Schüler mit Prügelstrafen zu züchtigen.

Nach der Schließung der Schule, bemühte sich Thoreau nicht um eine neue Anstellung. Der einflussreiche Philosoph und Essayist Ralph Waldo Emerson nahm ihn in sein Haus und seine Familie auf, überließ ihm die Pflege des Gartens, die Erziehung seiner Kinder und die Redaktion von »The Dial«, der wichtigsten Zeitschrift der amerikanischen Transzendentalisten, die den Einklang des Menschen mit seiner Umwelt suchten und in der Vorstellung einer »Allseele«, die Schöpfer und Schöpfung durchdringen und verbinden sollte, zu finden glaubten. Obwohl Thoreau, der ja immerhin studiert hatte und dem eigentlich alle Wege offenstanden, seinen Mitbürgern bald als Taugenichts galt, blieb er bei seiner Auffassung, ein Tag Arbeit in der Woche müsse genügen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Er half gelegentlich seinem Vater in dessen Bleistiftmanufaktur, bot seine Dienste als Landvermesser an oder beriet die Bauern der Umgebung mit seinen fundierten botanischen Kenntnissen. Wer aber einen Beruf ergreift, war seiner Meinung nach verloren, verkaufte sich an die Götzen Habgier und Ehrgeiz und verlor die Fähigkeit, sich mit den »wesentlichen Dingen des Lebens« auseinanderzusetzen.

Wie ernst ihm dieser Gedanke war, bewies er 1845 mit seinem Umzug in die selbstgebaute Blockhütte am Waldensee, auf einem Grundstück, das Emerson erworben hatte, um es vor der Rodung zu bewahren. Anders als sein berühmter Lehrmeister, wollte Thoreau sich nicht mit Theorien begnügen, sondern das Ideal des spirituellen Einklangs mit der Natur wirklich erleben, dem »Gedicht der Schöpfung« lauschen und durch dieses Erlebnis den Schlüssel zur Selbsterkenntnis finden.

Aus dem Experiment ging kein weltfremder Mystiker hervor. Wie sehr das erträumte Idyll und die raue Wirklichkeit auseinanderklaffen, wird von Thoreau gelegentlich sehr ironisch dargestellt - wenn er zum Beispiel für die »Seelenwanderung« eines Murmeltiers sorgt, das sein Bohnenfeld verwüstet hat - oder auch dramatisch - wenn er die Schlacht zweier Ameisenvölker schildert. Der Weg des Autors führte also keineswegs zu einer Verklärung der Natur als Inbegriff des »Guten«, sondern zu einer Öffnung der Sinne und zu einem Wachsen der Seele durch bewusste Wahrnehmung: »Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben. Ich wollte kein Leben führen, das eigentlich kein Leben ist, dazu war es mir zu kostbar. Ich wollte intensiv leben, dem Leben alles Mark aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles die Flucht ergreifen würde, was nicht Leben war.«

Thoreau ging es allerdings nie darum, Jünger um sich zu scharen und Rezepte für ewige Glückseligkeit auszustellen. Er wollte nicht, dass jemand seine Lebensart übernimmt, sondern wünschte, dass »es so viel verschiedene Menschen als möglich auf der Welt gebe; ein jeder sehe nur sorgfältig darauf, seinen eigenen Weg zu finden und zu gehen und nicht statt dessen den seines Vaters, seiner Mutter oder seines Nachbarn.«

Der Aufenthalt am Waldensee dauerte zwei Jahre mit kurzen Unterbrechungen. Eine dieser Unterbrechungen wurde durch Concords Steuereinnehmer verursacht. Thoreau hatte sich jahrelang geweigert, die sogenannte »Wahlsteuer« von einem Dollar pro Jahr zu entrichten. Wie viele andere Anhänger der Transzendentalisten misstraute er dem Staat, hielt politische Instrumente für ungeeignet, gesellschaftliche Bedingungen zu verbessern, und betrachtete die individuelle Bereitschaft, die eigene Lebensweise zu überdenken, als einzig wirksamen Weg zu sozialen Reformen. Dementsprechend hatte er nie gewählt, nie an Bürgerversammlungen teilgenommen und sich nie politisch engagiert.

Thoreau verbrachte wegen der Steuerschuld eine Nacht im Gefängnis, kam jedoch am nächsten Morgen frei, nachdem ein Freund den Dollar bezahlt hatte. Das Ereignis weckte Thoreaus Interesse an politischen Fragen und gab auch seiner schriftstellerischen Arbeit eine neue Richtung. Die Rechte und Pflichten des Individuums gegenüber dem Staat waren nun ein Thema, mit dem er sich in vielen Vorträgen und Essays auseinandersetzte. Am berühmtesten wurde der unter verschiedenen Titeln veröffentlichte Text »Civil Disobedience« (dt. »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat«), der später Freiheitskämpfer und Aktivisten wie Gandhi und Martin Luther King inspirierte.

Thoreau argumentierte in seinem Pamphlet, es sei geradezu Pflicht eines jeden Bürgers, das Zahlen der Steuern zu verweigern, wenn der Staat die Steuergelder nutze, um Kriege zu führen oder ein menschenverachtendes System wie die Sklaverei zu erhalten.

Die Sklavenhaltung in den amerikanischen Südstaaten und die Überzeugung der Abolitionisten, dass diese Form von Knechtschaft den Grundsätzen der Verfassung widersprach, inspirierten Thoreau zu weiteren Essays. Entgegen seiner früheren apolitischen Einstellung, begann er sich in den Jahren nach Abschluss des Walden-Experiments leidenschaftlich gegen die Sklaverei zu engagieren. Er ging dabei weiter als viele seiner Mitstreiter, indem er einen Fanatiker wie John Brown, der im Namen der Sklavenbefreiung Morde begangen hatte, wortreich verteidigte. Die Gewalttaten des militanten Abolitionisten schienen ihm durch dessen hehre Ziele gerechtfertigt, und die tragischen Folgen einer Überzeugung, nach der der Zweck jedes Mittel heiligt, konnte oder wollte er nicht ermessen.

Die Wahl Abraham Lincolns und der Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1861 wurden von Thoreau, der inzwischen unheilbar krank war, weitgehend ignoriert. Nach der Verurteilung und Hinrichtung John Browns hatte er sich fast ausschließlich kultur- und naturwissenschaftlichen Interessen zugewandt. Eine umfassende Naturgeschichte seiner Heimatstadt Concord konnte er jedoch ebenso wenig voll-enden wie ein lang geplantes Werk über die Kultur der Indianer Nordamerikas, zu dem er bereits elf Notizbücher mit Materialien angesammelt hatte.

Als Henry David Thoreau am 6. Mai 1862 im Alter von vierundvierzig Jahren an Tuberkulose starb, hinterließ er zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte - detailreiche Reiseberichte über die Wildnis von Maine und Cape Cod, wo er gelegentlich die Sommermonate verbrachte, Gedichte, naturkundliche Abhandlungen. Eine Schatzkiste an genauen Beobachtungen, poetischen Wahrnehmungen und spontanen Gedanken. »Das einzige Mittel gegen die Liebe ist, noch mehr zu lieben«, lautet einer seiner schönsten Tagebucheinträge, und Worte wie diese können sich auch heute noch als Medizin für jene erweisen, die den Blick für die wesentlichen Dinge des Lebens verloren haben.


Thoreaus Weisheiten

Was hinter dir liegt und
was vor dir liegt,
verliert im Vergleich zu dem,
was in dir liegt, an Bedeutung.

Wer Fehler finden will,
findet sie auch im Paradies.

Warum leben wir in solcher Eile, solcher Lebensverschwendung? Wir sind entschlossen zu verhungern, ehe wir hungrig sind.

Neu erschienen in Thoreaus 150. Todesjahr:

H. D. Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. Diogenes. 512 S., Leinen, 16,90 €.
Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Diogenes. 160 S., Leinen, 14,90 €.
Die Wildnis von Maine. Eine Sommerreise. Übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Pechmann. 160 S., geb., 19,80 €.
Wilde Früchte. Illustrierte Prachtausgabe im Schuber. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Bradley Dean. Mit 52 farbigen Illustrationen von Sonia Schadwinkel. Manesse. 320 S., 99 €.

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