Kristallischer Dunst, steinerner Raureif

Carlos Fuentes: Erinnerung an den großer Erzähler

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Mythos Mexiko: Zocaló, der große Platz
Mythos Mexiko: Zocaló, der große Platz

»Ich schreibe, wo immer ich bin«, sagte er einmal. »Auch im Flugzeug oder im Hotelzimmer. Ich will bei der Arbeit das Leben um mich herum hören.« Carlos Fuentes, Jahrgang 1928, liebte das Reisen, die Wanderung zwischen den Kulturen. Geboren wurde er in Panama, in Genf und Mexiko hat er Jura studiert, er war Mexikos Botschafter in Paris und hielt Vorlesungen in Harvard. Ja, er schätzte den steten Wechsel - ein Bein in der Neuen, ein Bein in der Alten Welt. Daheim in Mexiko lebte er nur die Hälfte des Jahres. Weil er dort halt doch nicht zum Schreiben kam. Anrufe, Besuche, Auftritte ohne Ende. Wenn er genug hatte, zog er sich nach London zurück, »wo das Wetter schlecht und das Essen noch schlechter ist, die Leute kalt sind und mich niemand belästigt«.

Fuentes, am Dienstag im Alter von 83 Jahren gestorben, war ein eleganter Feingeist, Prototyp des Links-Intellektuellen aus Lateinamerika. Geschliffene Prosa-Texte haben den Mexikaner berühmt gemacht, Texte von manchmal barocker Üppigkeit. Bücher wie »Terra Nostra«, »Der alte Gringo«, »Der Tod des Artemio Cruz« oder »Landschaft in klarem Licht«, eine sarkastische Hommage an seine Heimat: »Komm, laß dich mit mir fallen. In unsere mondzerklüftete Stadt. Stadt aus Kanälen, kristallischem Dunst und steinernem Raureif. Stadt, wo all unser Vergessen gegenwärtig ist.«

Mexiko, das war das eine große Thema des Romanciers und Essayisten: die Metropole, das unermessliche Land und die fragile Identität der Mexikaner. Mythen hatten es dem Dichter angetan. Und die Dämonen der Vergangenheit. Er las die Stadt als Palimpsest, ein Pergament, das stets aufs Neue beschrieben wurde. Vorsichtig grub er nach Spuren archaischer Kulturen, etwa in dem Band »Verbranntes Wasser«. Beziehungsreicher Titel: »Verbranntes Wasser«, das ist die ausgetrocknete Lagune unter dem Moloch der Moderne, eine Lagune aus Aztekenzeiten, Sinnbild für eine versunkene Tradition.

Dieses Erbe spürte Carlos Fuentes bereits als junger Mann. »Ich bin jeden Tag über den Zócalo spaziert, den zentralen Platz«, erzählte er, »auf dem Weg zur Juristischen Fakultät, vorbei an der Kathedrale, von der ich wusste, dass sie auf Ruinen errichtet worden war. Vorbei am Nationalpalast Mexikos, unter dem sich ebenfalls Ruinen, die des Templo Mayor befinden. 1978 hat man bei Ausgrabungen all dies wiedergefunden. Man hat gesehen, dass die Vergangenheit lebte. Was ich in Erzählungen geschrieben habe, das war realistisch, wahrheitsgetreu.« Roman-Autoren - davon war Fuentes überzeugt - sind die besseren Historiker. Denn Geschichte sei nun einmal seltsam fiktiv, romanhaft.

Das zweite große Thema des Mexikaners war der Zusammenprall der Kulturen in Lateinamerika, eine Art »umgekehrter Conquista«. Die Nachfahren der Eroberten, so glaubte der Dichter, würden heute die Territorien der Eroberer besetzen. Der neue Mensch - für Fuentes war es der Latino, der nachts die »gläserne Grenze« nach Norden überwindet. Im Schmelztiegel Los Angeles sah er das moderne Babylon.

Der Mexikaner hat Dutzende Bücher publiziert. 1987 erhielt er den Premio Cervantes, den spanischen Nobelpreis. Fuentes schätzte Schicksalsthemen, Biografien mit dramatischem Schwung, aber auch Mysterien, den Übergang zwischen Dies- und Jenseitigem, das subtile Spiel mit Licht und Schatten. Ja, Carlos Fuentes genoss den Aufenthalt in Zwischenwelten und esoterischen Breiten. Zugleich verstand er sich immer als politischer Autor, als Fürsprecher der Benachteiligten und als Stimme der Dritten Welt. Ein Schriftsteller dürfe sich durchaus im Elfenbeinturm einschließen, meinte er, denn er sei der Phantasie und der Sprache verpflichtet. »Wenn ich aber von Politik reden, mich politisch einmischen will, dann mache ich das nicht als Autor, sondern als Bürger. Wie der Schreiner, der Taxifahrer oder der Kaufmann. Ich bin kein Ideologe, ich will ein Humanist sein.«

Fuentes provozierte gern. Doch er war ein Kämpfer mit Zweifeln, ein skeptischer Aufklärer. Im blinden Glauben an den Fortschritt entdeckte der linke Publizist irgendwann den Unglückskeim des 20. Jahrhunderts. Manchmal zitierte er Oscar Wilde: »Pessimismus ist ein informierter Optimismus.« In seiner Heimat wurde der wortgewaltige und streitbare Literat nach Octavio Paz die wichtigste Figur im öffentlichen Leben, die Persönlichkeit mit dem größten Charisma, dem größten Gewicht.

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