Opfer zu Tätern gemacht

Rot-grüne Sozialpolitik: eine Mixtur aus Sanktionen und Disziplinierung

  • Daniel Kreutz
  • Lesedauer: 6 Min.
Die rot-grüne Sozialpolitik hat den Druck auf die Erwerbslosen verstärkt und sich von den Problemfällen abgewendet, schreibt Daniel Kreutz in seinem Aufsatz »Neue Mitte im Wettbewerbsstaat - Zur sozialpolitischen Bilanz von Rot-Grün«. Der Beitrag erschien in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Hier einige Auszüge:
Rot-Grün hat das düstere Szenario des Jahres 1998 nicht aufgehellt, sondern weiter verfinstert. Die bekannten Axiome neoliberaler Standortpolitik (Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung der Wirtschaft, Senkung der Arbeitskosten etc.) blieben unverändert Leitlinien der rot-grünen Regierungspolitik. Während 1999 das »größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik« (Eichel) allein die Erwerbslosen mit gut einem Drittel des Sparvolumens von etwa 15 Milliarden Euro belastete, brachte die Unternehmenssteuerreform 2000 den Arbeitgebern und insbesondere den großen Kapitalgesellschaften einen beispiellosen Entlastungsschub, der auch die Haushalte von Ländern und Kommunen in bislang unbekanntem Ausmaß unter Druck setzt und dort neue »Sachzwänge« für die Streichung sozialer Leistungen schafft. Dass die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik wohl der Reichtumsförderung, nicht aber dem Abbau der Erwerbslosigkeit dient, hatte bereits die Kohl-Regierung hinreichend nachgewiesen. Insofern kann das Scheitern von Rot-Grün beim obersten aller Ziele - deutlicher Abbau der Erwerbslosigkeit - kaum überraschen. Der entschuldigende Verweis auf globale konjunkturelle Probleme und der Verzicht auf beschäftigungspolitische Intervention (»ruhige Hand« ) lässt erkennen, dass Rot-Grün - wie die Vorgänger - über kein Politikkonzept zum Abbau der Erwerbslosigkeit verfügt und das Ziel ihrer Überwindung faktisch zu Gunsten eines »Sich-Einrichtens« in dauerhaft hoher Erwerbslosigkeit aufgegeben hat. Stattdessen wurden mit der vom Kanzler gezielt ausgelösten »Faulenzer-Debatte« von höchster Stelle Opfer zu Tätern umgedeutet, indem Erwerbslosigkeit als ein individuelles statt sozialökonomisches Problem interpretiert wurde. Der Vorstoß diente der populistischen Akzeptanzbeschaffung für das Neue-Mitte-Konzept der »aktivierenden Sozialpolitik«, das auch als Systemwechsel vom »welfare state« zum »workfare state« diskutiert wird. Es verspricht soziale Inklusion durch die Integration erwerbsloser Transferleistungsbezieher in den Arbeitsmarkt. Dabei kann es aber wegen des unverändert hohen Angebotsdefizits an regulären Arbeitsplätzen allenfalls mit schlechten Jobs und entrechteter Pflichtarbeit im Niedriglohnsektor aufwarten. Nennenswerte Beschäftigungseffekte sind nicht zu erwarten, wohl aber zusätzlicher Deregulierungsdruck auf die tariflichen Entgeltsysteme. Wer nicht spurt, verliert sein soziales Existenzrecht Verbindliche Eingliederungsvereinbarungen stellen Lebensplanung und -führung der Betroffenen noch stärker als bisher unter behördliche Vormundschaft. Die sanktionsbewertete Bindung von Transferleistungsbezug an erwerbsintegratives Wohlverhalten (»Fördern und Fordern«), knüpft bruchlos an die repressiven Verschärfungen des Arbeitsförderungs- und Sozialhilferechts der Kohl-Ära an. Sie stellt vor allem in der Sozialhilfe einen weit reichenden Paradigmenwechsel dar: Mit (aus Behördensicht) mangelndem Wohlverhalten verwirkt der Betroffene sein soziales Existenzrecht. In der Sozialhilfepraxis gerät »Fördern und Fordern« zur »sozialrechtlichen Anspruchsvernichtung« und zur Kostensenkung durch Abschreckung. Wo die Vermittlungsquote als wichtigstes Erfolgskriterium der Sozialpolitik gilt, fokussiert sich die Tätigkeit institutioneller Akteure auf diejenigen, bei denen der Vermittlungserfolg relativ leicht erreichbar scheint. Das führt zu einer Abwendung von den »Problemfällen«, erst recht aber von denen, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen können. Wesentliches Reformziel der »aktivierenden« Politik - die mit dem Job-Aqtiv-Gesetz eine strategische Neuorientierung des Arbeitsförderungsrechts einleitete - ist die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe; Modellversuche bereiteten dies politisch wie administrativ vor. Mit diesem Schritt droht den Langzeiterwerbslosen die Aussteuerung aus dem vorrangigen Sicherungssystem bei weiterer Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Um diesem Schicksal zu entgehen, werden Erwerbslose wie Beschäftigte sich noch willfähriger gegenüber Zumutungen von Arbeitgebern zeigen. Der »Statistik-Skandal« bot willkommenen Anlass zur forcierten Privatisierung der öffentlichen Arbeitsverwaltung. Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs wurde von einer enormen Aufgeregtheit der Wirtschaftslobby begleitet. Wie man mittlerweile weiß, gab es dazu keinen sachlichen Grund. Die prekären Jobs wurden nicht zurückgedrängt. Eine partielle Ersetzung geringfügig Nebenbeschäftigter durch geringfügig Alleinbeschäftigte ließ die sozialen Risiken eher wachsen. Die Pflichtbeiträge an die Sozialversicherung werden durch Verzicht auf die pauschale Lohnsteuer praktisch vom Staat bezahlt statt von den Arbeitgebern. Eigene Rentenansprüche erwerben die überwiegend weiblichen Beschäftigten mit den Pflichtbeiträgen nicht. Die versprochene sozial- und frauenpolitisch orientierte Re-Regulierung am unteren Rand des Arbeitsmarktes blieb aus. Befristete Arbeitsverträge können weiterhin als Instrument zur Disziplinierung, zum Unterlaufen von Tarifrechten und zur Spaltung von Belegschaften eingesetzt werden (Teilzeit- und Befristungsgesetz). Rot-Grün hielt an dem seit vielen Jahren als unzureichend kritisierten Niveau der Sozialhilfe fest, schrieb die »systemwidrige« Kopplung der Regelsätze an die Rentenanpassungen fort und eröffnete mit der Ermächtigung zu Pauschalierungsexperimenten der sparpolitischen »Kreativität« der Kommunen neue Betätigungsfelder. Das frühere sozialreformerische Projekt einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung, das stets auch auf ein deutlich angehobenes, »armutsfestes« Sicherungsniveau zielte, erfuhr eine Umdeutung zur partiellen Zugangserleichterung in die Sozialhilfe. Folgerichtig gilt Sozialhilfebezug auch im ersten Armuts-Reichtumsbericht der Bundesregierung nicht als Indikator für Armut, sondern erscheint - wie unter Kohl - als »bekämpfte Armut«. Die Sozialsysteme werden verbilligt Bei hoher Gesetzgebungsdichte im Pflegebereich wurde die post-sozialstaatliche Konstruktion der Pflegeversicherung bestätigt und blieben die entscheidenden Probleme der Pflege in Gegenwart und Zukunft - ausreichende soziale Absicherung, menschenwürdige Pflegequalität und tragfähige Strukturen qualifizierter häuslicher Pflege - ohne Perspektive. Die Aufmerksamkeit, die der demografischen Entwicklung der kommenden Jahrzehnte in der Rentendebatte zuteil wurde, steht in krassem Missverhältnis zu ihrer weit gehenden Verdrängung in der Pflegepolitik. Dabei stellt die zukünftig wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen enorme Anforderungen an die Weiterentwicklung der pflegerischen Infrastrukturen, die auch beschäftigungspolitisch von hohem Interesse sein müssten. Die Politik ignoriert ihre Aufgabe, eine Pflege zu ermöglichen, die der Qualitätssicherung zugänglich ist und die Grundrechte auf Menschenwürde und Selbstbestimmung wahrt, differenzierte Strukturen häuslicher Pflege zu entwickeln, ihre Zugänglichkeit auch finanzschwachen Schichten zu garantieren und sie entsprechend der Bedarfsentwicklung auszuweiten. Diese Entwicklung geht unmittelbar auf die ungebrochene Hegemonie der neoliberalen Doktrin zurück, die die »Verbilligung« der Sozialsysteme zur Hauptaufgabe von Sozialpolitik erklärt. Da die Erschließung von Ressourcen für eine sozialstaatliche Absicherung und Gestaltung von Pflege blockiert ist, reduziert sich Pflegepolitik auf den Versuch, die gravierenden Probleme mit einem lärmenden »Qualitätssicherungszirkus« zu verdrängen. Behinderte: Es blieb bei Versprechungen Ein relativ günstiges Erscheinungsbild bot die rot-grüne Politik zu Belangen behinderter Menschen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass selbst hier die Teilhabeversprechen uneingelöst bleiben, wo sie in mehr als marginalem Umfang verteilungspolitische Konsequenzen hätten. Die positiven statistischen Effekte der Kampagne zum Abbau der Erwerbslosigkeit Schwerbehinderter, die mit Kampagnen für andere arbeitsmarktpolitische Zielgruppen um das knappe Arbeitsplatzangebot konkurrieren muss, dürften in hohem Maß auf Verrentungen von Betroffenen zurückgehen. Die Neuordnung des Rehabilitationsrechts im Sozialgesetzbuch IX beschränkte sich auf Verfahrensreformen und ließ Ansprüche auf verbesserte leistungsrechtliche Garantien des Nachteilsausgleichs außer Acht. Dem Bundesgleichstellungsgesetz für behinderte Menschen blieb das Schicksal des privatwirtschaftlichen Gleichstellungsgesetzes für die Frauen erspart - allerdings um den Preis des Verzichts auf Regelungen zur Barrierefreiheit im privatwirtschaftlichen Raum.
Daniel Kreutz war von 1990 bis 2000 Sprecher für Arbeit, Gesundheit und Soziales in der grünen Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen.
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