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Im Gespräch zurück ins Leben
Psychotherapeuten wollen besonders vulnerable Gruppen besser versorgen, stoßen aber an Grenzen
Zu den Erkrankungen des Gehirns gehören nicht nur Depressionen oder Psychosen, sondern auch neurologische Leiden wie Parkinson oder Demenzen. Alle zusammen sind mit hohen Kosten und Krankheitslasten verbunden. Insgesamt sind sie im Gesundheitswesen (und mit Folgekosten auch darüber hinaus) teurer als Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs zusammen. Für psychische Störungen charakteristisch ist eine lange Krankschreibungsdauer, 28 Fehltage sind der Mittelwert. Menschen mit Erwerbsminderung haben am häufigsten eine solche Störung. Ebenso weit vorn sind diese Krankheiten bei der Zahl der verlorenen gesunden Lebensjahre.
Bei den Therapien stehen Medikamente im Vordergrund, aber für viele der Krankheiten gehört eine (ambulante) Psychotherapie zu den empfohlenen Ansätzen. Sie kann Symptome lindern, die Lebensqualität verbessern und Rückfälle reduzieren. Eine Psychotherapie ist in akuten Phasen mancher Störungen nicht sinnvoll, da die Einsicht der Betroffenen fehlt, überhaupt krank zu sein. Angesichts der hier angedeuteten Belastung sowohl für Patienten als auch für Angehörige ist es schon erstaunlich, dass die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für ambulante Psychotherapien nur 1,3 Prozent ihrer Gesamtausgaben aufbringt.
»Menschen mit Autismus sind in Deutschland therapeutisch unzureichend versorgt. Es gibt für Erwachsene nur zwölf spezialisierte Zentren in Deutschland mit sehr langen Wartelisten.«
Isabel Dziobek Neurowissenschaftlerin
Entsprechend lang sind immer noch die Wartezeiten für diese Therapien, wenn sich auch einiges verbessert hat. Nach verschiedenen Quellen kann es im Schnitt fünf Monate dauern, bis eine Therapie vereinbart wird. Auch vom vorbereitenden Erstgespräch bis zum Therapiebeginn kann es so lange dauern. Der GKV-Spitzenverband zeigte aber in einer Analyse von Ende 2022, dass 74 Prozent der Versicherten nicht länger als 21 Tage auf eine erste Sprechstunde warteten.
Jedoch wird weiterhin ein Mangel an Kapazitäten beklagt – und dies trifft noch einmal besonders für vulnerable Gruppen zu. Eine dieser Gruppen sind geflüchtete Menschen, bei denen frühere Traumatisierungen (entweder nach Krieg und Verfolgung oder durch die Flucht) zu therapieren wären. Schon zuvor vorhandene psychische Erkrankungen können hinzukommen.
Entgegen der regelmäßig großen medialen Aufregung nach Gewalttaten, insbesondere von Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kamen, hat die Bundesregierung 2024 die Mittel im Bereich psychosozialer Hilfen für Geflüchtete drastisch gekürzt. Das betrifft nicht nur Psychotherapien, sondern auch Beratung oder Sprach- und Kulturmittlung. Diese Aufgaben werden schon länger durch spezielle Hilfezentren wahrgenommen, deren Existenz aber häufig nicht auf Dauer gesichert ist.
Trotz der oft prekären Versorgung beschäftigten sich Ende Juni Psychotherapeutinnen und -therapeuten auf einem Symposium in Berlin ausführlich mit den Möglichkeiten, auch vulnerablen Gruppen Therapien anzubieten. Zu den Patienten, deren Krankheit oft unsichtbar bleibt, zählen jene mit einer Störung aus dem Autismusspektrum. Sie sind besonders durch soziale Isolation belastet, wie Isabel Dziobek von der Berliner Humboldt-Universität berichtet. Die Psychotherapeutin und Neurowissenschaftlerin leitet dort seit 2022 die Hochschulambulanz für Psychotherapie und Psychodiagnostik.
Bis zu 80 Prozent der Betroffenen sind entweder arbeitslos oder leben von einer Erwerbsminderungsrente. Ihre Lebenserwartung ist verkürzt, die Suizidrate hoch. »Menschen mit Autismus sind in Deutschland therapeutisch unzureichend versorgt«, betonte Dziobek. »Es gibt für Erwachsene nur zwölf spezialisierte Zentren in Deutschland mit sehr langen Wartelisten – und die meisten davon machen ausschließlich Diagnostik.«
Laut Dziobek kommen im Fall von Autismusstörungen noch weitere Schwierigkeiten hinzu: Es handelt sich offenbar, auch unter Erwachsenen, um eine Modediagnose. Fachleute vergeben diese »entweder inflationär oder überkonservativ«, berichtet Dziobek. Die spezialisierten Ambulanzen vergeben in zwei Dritteln der Fälle die Diagnose nicht, was wiederum zu Identitätskrisen führt: »Auch diese Menschen brauchen ein passendes therapeutisches Angebot.«
Wird jedoch Autismus diagnostiziert, gibt es keine zugelassene Pharmakotherapie. Eine Psychotherapie bleibt also Mittel der Wahl. Aber viele Mediziner und auch Therapeuten haben noch zu wenig Wissen über diese Störungsformen. Für die Betroffenen ist die Kontaktaufnahme mit Behandlern eine weitere Hürde: Weil sie etwa an Telefonangst leiden, ist eine Anmeldung per Mail für sie ein besserer Weg. In der Therapie geht es laut Dziobek dann viel um Stressmanagement und Alltagsbewältigung. Weil soziale Aktionen für die Patienten anstrengend sind, ist auch das Kommunizieren und Akzeptieren der eigenen Grenzen eine Lernaufgabe in der Therapie.
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Um eine gute Behandlung von Suchtkranken geht es Tim Pfeiffer. Der psychologische Psychotherapeut arbeitet in München in einem Praxiszentrum. Für Pfeiffer liegt die Herausforderung zunächst einmal in der großen Menge von möglichen Patienten: »Allein 3,7 Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Substanzgebrauchsstörung.« Dabei ist der sogenannte problematische Konsum, der nicht als Krankheit gilt, noch gar nicht erfasst. Gerade dieser kann bei vielen Patienten eine Rolle spielen. Im therapeutischen Kontakt wird er häufig ausgespart, entsprechend der langjährigen Praxis, dass ein Entzug vor Beginn einer Psychotherapie stehen müsse. Hier wünscht sich Pfeiffer mehr Aufmerksamkeit von seiner Zunft.
Der Psychologe hadert zudem mit dem Therapieziel Konsumfreiheit: »Das wird den Patienten nicht gerecht; sie haben sonst keine anderen Möglichkeiten zur Regulation ihrer Emotionen.« Pfeiffer plädiert dafür, unbedingt mit vorhandenen Hilfestrukturen zu kooperieren, darunter Suchtberatungsstellen oder Schuldnerberatungen. Das werde aber noch nicht vergütet und sei so für Therapeuten auf Dauer nicht möglich. Zu diesem Punkt wurde indes im Laufe der Veranstaltung auf eine neue Verordnung vom Februar dieses Jahres verwiesen: Sie ermöglicht eine ambulante psychotherapeutische oder psychiatrische Versorgung unter anderem von Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden.
Das Berliner Symposium der Psychotherapeuten fand jedenfalls in der Berufsgruppe großes Interesse: 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen online und vor Ort an der Veranstaltung teil. Kritik gab es unter anderem an der zunehmenden Zersplitterung der Abrechnungssysteme und deren fehlender Transparenz. Auch würden in der Aus- und Weiterbildung die Belange vulnerabler Gruppen nicht ausreichend berücksichtigt.
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