Unnötig unterm Messer

Krankenkassen warnen vor einem gefährlichen und teuren Trend

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
In Deutschland werde zu viel operiert, finden die Krankenkassen. Sie berufen sich dabei auf die Zahlen einer neuen Untersuchung. Krankenhäuser und Ärzte wollen das so nicht gelten lassen.

»Vieles deutet darauf hin, dass in den Kliniken aufgrund ökonomischer Anreize medizinisch nicht notwendige Leistungen erbracht werden«, formulierte der Vizechef des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen, Johann-Magnus von Stackelberg gestern vorsichtig. Sein Kollege und Krankenhausexperte Wulf-Dietrich Leber ist da schon deutlicher. »Man muss immer mehr aufpassen, dass man nicht unters Messer kommt«, warnte er.

Einem Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung Essen (RWI) zufolge, das von den Kassen in Auftrag gegeben wurde, gab es zwischen 2006 und 2010 einen Anstieg von 13 Prozent bei den Eingriffen, wobei schwere Fälle stärker gewichtet wurden. Rund 60 Prozent des Anstiegs an Operationen seien nicht durch die Alterung der Gesellschaft erklärbar, urteilen die Experten. Außerdem können sie die Unterschiede in den einzelnen Bundesländern nicht erklären. So werden in Bayern nach Angaben der AOK besonders häufig künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt. Auf 100 000 Versicherte kämen im Schnitt 160 Operationen, in Berlin seien es nur 90. Besonders stark gestiegen seien Behandlungen im orthopädischen Bereich sowie Eingriffe im Zusammenhang mit Herzerkrankungen. Auch der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn sagte: »In Deutschland wird zu oft und zu früh operiert, etwa bei Bandscheibenvorfällen oder Knie-OPs.« Manche Kliniken zahlten Chefärzte Boni nach der OP-Zahl. »Da müssen und wollen wir im Interesse der Patienten und der Beitragszahler ran.«

Über den Anstieg der Zahl unnötiger Operationen wird seit Jahren diskutiert, besonders intensiv nach der Einführung des Fallpauschalensystems in den Krankenhäusern. Danach werden für Operationen in der Regel feste Beträge abgerechnet, so dass die Einnahmen der Kliniken nur über die Zahl der Eingriffe zu vergrößern sind. Nach der Analyse des RWI steigt die Leistungsmenge seit Einführung der Fallpauschalen um ca. drei Prozent jährlich. Weniger als die Hälfte davon sei aber auf die Alterung der Bevölkerung zurückzuführen.

Heftig dementiert wurde der von Institut und Kassen vorgetragene Trend durch die Vertreter der Krankenhäuser. Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, sagte: »Die pauschale Verdächtigung, die Krankenhäuser würden aus nichtmedizinischen Gründen Patienten operieren, ist diffamierend und dezidiert zurückzuweisen.« Die Versorgung mit künstlichen Hüft- und Kniegelenken sei in Deutschland nicht häufiger als im internationalen Vergleich, sagte die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) bereits vor Monaten, als Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) formulierte, Deutschland gelte als Weltmeister in der Endoprothetik.

Hintergrund für die Veröffentlichung der im Auftrag der Krankenkassen ermittelten Daten dürften die derzeit stattfindenden Verhandlungen der Koalition über die Klinikfinanzen sein. So sollen die Häuser künftig für Operationen, die einen gewissen Umfang überschreiten, eine etwas geringere Vergütung bekommen. Die Kassen fordern grundlegendere Reformen. Man brauche kurzfristig eine Stabilisierung von Preis und Menge und mittelfristig neue Modelle zur Steuerung der Mengen, insbesondere im Bereich planbarer Operationen, so GKV-Chef von Stackelberg: »Es muss das gemeinsame Anliegen der Kliniken, der Patienten und der Krankenkassen sein, dass die Anreize für medizinisch nicht notwendige Operationen gemindert werden.«


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