Die falsche Diagnose

  • Alexander Ulrich
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit 2010 wird die Krise in Europa unter Federführung der deutschen Bundesregierung genutzt, um die neoliberalen Spielregeln in einem Ausmaß zu radikalisieren, das in »normalen Zeiten« undenkbar wäre. Stichworte sind das Europäische Semester, der Euro-Plus-Pakt und - wie zu befürchten steht - bald auch der Fiskalpakt. Die Kernelemente all dieser Maßnahmen sind weitgehend identisch: Ausgabenkürzungen, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und schärfere Sanktionen gegen Defizitländer. Diese Medizin wird auf Basis einer falschen Diagnose verabreicht. Die Maßnahmen gehen an den Ursachen der Krise völlig vorbei. Sie verursachen eine tiefe Rezession und verschärfen die Krise weiter.

Das strukturelle Problem vieler europäischer Haushalte liegt nicht auf der Ausgaben- sondern auf der Einnahmeseite. Es gibt auch kein Problem mit einer insgesamt zu niedrigen Wettbewerbsfähigkeit, sondern eins mit zu großen Ungleichgewichten. Daran ändert eine pauschale Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit nichts. Sie verteilt von Löhnen zu Profiten um, ohne die strukturellen Probleme zu berühren. Und auch die Verschärfung finanzieller Sanktionen geht an der Problemstellung vorbei. Die Schulden sind nicht Folge staatlicher Verschwendung, sondern von Finanzspekulation, Immobilienblasen und irrsinnigen Bankenrettungsaktionen.

Statt auf die Überwindung der Krise zielen die Reformen auf einen Abbau sozialer und politischer Rechte. Soziale Rechte geraten unter Druck, indem aus der falschen Diagnose die Notwendigkeit von Sozialabbau und Lohnkürzungen abgeleitet wird. Der Angriff auf politische Rechte besteht in einer systematischen Entmachtung gewählter Parlamente zu Gunsten schwach legitimierter europäischer Institutionen. Die Reformen sehen zahlreiche Möglichkeiten vor, mit denen die Kommission weitreichend in die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer eingreifen kann.

Ein weiteres demokratiepolitisches Problem besteht im interstaatlichen Machtgefälle. Das offenbaren die jüngsten »Empfehlungen« der Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters sehr deutlich. Auf Länder wie Griechenland wird massiver Druck ausgeübt, Privatisierungen vorzunehmen, Gesundheitsdienstleistungen abzubauen und Renten zu kürzen. Deutschland hingegen kann es sich offensichtlich leisten, die »Empfehlungen« zu ignorieren. Schon im Jahr zuvor wurden beispielsweise der Mangel an Kitaplätzen und die Chancenungleichheit im Bildungssystem angeprangert. Passiert ist nichts. Deswegen taucht diese Kritik nun fast im selben Wortlaut erneut auf. Doch statt darauf zu reagieren, setzt die Regierung auf die rückwärtsgewandte »Herdprämie« und Elitenförderung.

Als vorläufiger Höhepunkt der Reformen soll nun der Fiskalpakt im Eiltempo durchgedrückt werden. Dieser würde die neoliberale Radikalisierung der EU erst einmal abrunden. Fast alle Staaten, auch Deutschland, müssten dann weitreichende Kürzungsmaßnahmen umsetzen.

Aber Sozial- und Demokratieabbau sind die falsche Antwort auf die Krise. Deswegen gilt es, sich mit aller Kraft gegen den Fiskalpakt zu stemmen - politisch und juristisch - und für eine alternative Krisenpolitik zu kämpfen. Wir brauchen keinen Sozialkahlschlag, sondern eine Stärkung der Haushalte durch eine Erhöhung des Steueraufkommens (Vermögenssteuer, höhere Besteuerung von Spitzeneinkommen, Bekämpfung von Steuerflucht, Finanztransaktionssteuer etc.) und einen Abbau der Ungleichgewichte, unter anderem durch ein Ende des Lohndumpings in Deutschland. Das würde den Druck auf die Defizitländer reduzieren und zugleich die deutsche Wirtschaft über die höhere Binnennachfrage stärken.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal