»Wir sind alle Mosche Silman«

Erneut hat sich in Israel ein Mensch aus Protest verbrannt

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 3 Min.
In Israel hat sich am Sonntag erneut ein Mensch angezündet - es war das siebte Mal, seit sich Mosche Silman vor einer Woche während eines Sozialkundgebung mit Benzin übergoss. Er ist nun das Gesicht der Protestbewegung, die bemüht ist, weitere Fälle zu verhindern.

Etwas ist anders. Die Fernsehsender zeigen mittlerweile Abend für Abend Bilder von Demonstranten, die in der abendlichen Hauptverkehrszeit die Ayalon-Autobahn, Tel Avis Verkehrsschlagader, blockieren. Doch nur wenige Autofahrer reißen die Tür auf, springen aus dem Wagen, brüllen, wie man es in der Stadt sonst bei solchen Gelegenheiten gewöhnt ist. Die meisten hupen und machen den Stau selbst zur Demonstration. »Wir sind alle Mosche Silman«, sagt ein Autofahrer, der über der offenen Wagentür lehnt, eine Hand an der Hupe, dem Sender Kanal 2: »Wer sagt mir, dass ich nicht morgen auch alles los bin?«

Es ist Sonntagabend, und gerade ist die Nachricht eingetroffen, dass sich an einer Bushaltestelle außerhalb Tel Avivs erneut ein Mann, Kriegsveteran, im Rollstuhl sitzend angezündet hat. Es ist das siebte Mal innerhalb einer guten Woche, dass jemand in Israel so etwas tun will - in fünf Fällen konnte es noch verhindert werden, in zweien aber erlagen die Betroffenen nach einem langen Todeskampf schwersten Verbrennungen.

Die Taten haben die Protestbewegung verändert: Sie ist entschlossener geworden, aber auch nachdenklicher. »Es ist nun notwendiger denn je, den Kampf für soziale Gerechtigkeit fortzuführen«, sagt Dafni Leef, die im vergangenen Jahr die erste Runde der Sozialproteste mit einem Facebook-Eintrag anstieß: »Aber es ist wichtig, dass sich jeder bewusst macht, dass es falsch ist, sich das Leben zu nehmen.« Ein Appell, den auch die Familie jenes Menschen an die Öffentlichkeit gesandt hat, der sich am Sonntagnachmittag tötete - kurz vor der Beerdigung Silmans, der sich als erster eine Woche zuvor während einer Kundgebung angezündet hatte: Man wolle das Schicksal des Opfers aus der Öffentlichkeit heraushalten und appelliere an jeden, nicht den Schritt in den Tod zu wählen.

Die soziale Protestbewegung in Israel hatte vor einem Jahr mit einem Zeltlager in Tel Aviv begonnen. Seitdem gab es regelmäßig Demonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten in Israel. Silman hat der Protestbewegung nun einen Namen gegeben; sein Leben ist zum Ausdruck ihrer Inhalte und ihrer Forderungen geworden: Vor zehn Jahren betrieb er einen Kurierservice, war Teil der Mittelschicht, Unternehmer, so wie es sich die Wirtschaftsliberalen vom Likud-Block wünschen. Dann kam der Gerichtsvollzieher und beschlagnahmte seinen Lieferwagen wegen einer Sozialversicherungsschuld in Höhe von 1500 Schekel, umgerechnet 270 Euro. Eine Ratenzahlung wurde abgelehnt, Silman ging pleite, wurde krank, erhielt eine Rente, die mal gekürzt und mal ganz gestrichen wurde, und schlief am Ende auf den Sofas seiner Freunde. Bei jedem Protest war er stiller Teilnehmer. Und wenn er nicht demonstrierte, schrieb er Briefe an Regierung und Abgeordnete - und am Ende an das Land: Er sehe keine andere Möglichkeit mehr, den Nöten der Menschen Gehör zu verschaffen, heißt es darin zusammengefasst.

»Diese Tat hat mich schockiert; diese Revolution muss ohne Opfer verlaufen«, sagt Leef. »Was mich und sehr viele andere Menschen allerdings wirklich sauer macht, ist die Reaktion Netanjahus darauf.« Der Premierminister hatte am Sonntag nach der Tat erklärt, er bedauere dieses »tragische persönliche Schicksal«.

»Das ist nicht nur ein persönliches Schicksal«, sagt Leef, »sondern eine nationale Tragödie, die sich Tag für Tag tausendfach in diesem Land abspielt und von der Regierung geduldet wird. Das war ein extremer Akt eines Menschen, der unter der Brutalität des Systems zusammengebrochen ist. Andere leiden still weiter.«

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