Wer schreiben kann, muss schreiben dürfen

MEDIENgedanken: Leserkommentare schließen?

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

In der digitalen Gesellschaft, also in jener Welt, in der Kommunikation mittels Twitter, Facebook, E-Mail, SMS erfolgt, herrscht der unerschütterliche Glaube, dass mit dem Beginn des digitalen Zeitalters auch die demokratische Partizipation des Individuums vorangebracht wird. Auffälligster Ausdruck dieser Partizipation: Die Möglichkeit, im Netz fast alles, was dort veröffentlicht wird - anonym oder mit Klarnamen - zu kommentieren. Längst finden die entsprechenden Debatten nicht nur in Weblogs statt. Jede Zeitung, die mit der Zeit gehen will, hat eine Kommentarfunktion für die online veröffentlichten Artikel freigeschaltet - mindestens, wenn nicht sogar die Redakteure selbst unters Bloggervolk gegangen sind.

Das ist, zugegebenermaßen, wirklich ein demokratischer Fortschritt. Das Privileg des Journalisten (bzw. der Zeitung bzw. des Verlegers), Meinung zu veröffentlichen, ja Meinungen zu machen, wird durch den Schwarm der Kommentatoren in Frage gestellt. Die Unterschiede zwischen »Profis« und »Amateuren« schwinden. Allein: Es nimmt auch die Fallhöhe zu. In der von sogenannten Nicknames bevölkerten Grauzone des Netzes ist die Hemmschwelle zur Denunziation, der verbalen Hinrichtung politisch Andersschreibender eine sehr niedrige.

Man konnte bislang nur vermuten, dass hierdurch Menschen abgeschreckt werden, selbst Beiträge zu schreiben, weil sie fürchten müssen, persönlich angegriffen oder beleidigt zu werden. Zwar gibt es die sogenannte Netiquette, die die schlimmsten verbalen Auswürfe verhindern soll, aber was im Zweifelsfall noch guter Geschmack ist oder bereits in die Sprachfäkaliengrube gehört, ist eben Ansichtssache - die des Betreibers des jeweiligen Blogs bzw. der jeweiligen Webseite sowie die der anderen Kommentatoren.

Dass diese Vermutung eine Grundlage hat, bestätigt jetzt ausgerechnet einer der Pioniere der Netzgemeinschaft in Deutschland: Markus Beckedahl. Seit acht Jahren wacht Beckedahl über die Kommentarfunktion seiner Seite netzpolitik.org. 130 000 Kommentare, hat er gezählt, habe er in dieser Zeit gelesen. Da er für die Inhalte rechtlich Verantwortung trägt, war es mit einem bloßen Überfliegen nicht getan. Nimmt man an, dass er durchschnittlich nur eine Minute pro Kommentar verwendete und geht man davon aus, dass Beckedahl als Work᠆aholic (Netzaffine kennen kein Wochenende, keinen Feierabend, keine geregelte Arbeitszeit) an deutlich mehr als 300 Tagen im Jahr vor dem Computer saß und sich mit seiner Webseite beschäftigte, hat er grob geschätzt arbeitstäglich mindestens eine Stunde mit dem Lesen, Bewerten und dem eventuellen Löschen von Online-Kommentaren seiner Seite verbracht.

Das ist viel Lebenszeit und Summa sumarum war es wohl keine angenehme Zeit, denn Markus Beckedahl hat jetzt die Nase voll. »Ich hab keine Lust mehr«, hat er vor wenigen Tagen auf seiner Webseite verkündet. Die Hälfte der Kommentatoren habe sich »nicht im Ton beherrschen können«, Beleidigungen, Unterstellungen, falsche Tatsachenbehauptungen seien die Regel gewesen, meint er rückblickend. »Ich hab keine Lust mehr auf die vielen Verschwörungstheorien und einfachen Weltbildern, wer jetzt wieso Schuld an irgendwas ist. Die EU, der Staat, die Illuminaten, der Kapitalismus, die USA, XYZ. Die Welt ist in der Regel etwas komplexer.«

Ja, die Welt ist wirklich komplexer als sie im Internet kommentiert wird. Ich kann Beckedahl verstehen. Öffentlich will natürlich keine Zeitung, wollen die wenigsten Blogger zugeben, dass viele Nutzerkommentare aus Pöbelei, Angeberei, simplen Weltbildern bestehen. Das Problem aber ist, dass keine Zeitung, kein Blogger schon wegen der Leser-Blatt-Bindung auf die Kommentare verzichten will - und nicht verzichten kann, denn das würde dem kommunikativen Grundgedanken des Mediums Internet widersprechen. Wenn einmal - bildlich gesprochen - der Marktplatz für jeden frei zugänglich ist und jeder hier reden darf, müssen die, die bis dato ein exklusives Rederecht besaßen, eben damit leben, dass auch beleidigt, gepöbelt, diskriminiert wird.

Beckedahl selbst schreckt vor dem verführerischen Gedanken zurück, das Eingangstor zum Marktplatz wieder zu schließen. »Am liebsten würde ich einfach die Kommentare schließen«, schreibt er am Schluss seines Eintrags, »aber das ist keine Lösung«. Auch der - halb im Scherz, halb im Ernst gemeinte - Vorschlag von Jürgen Kaube in der FAZ, die Kommentarkultur dadurch wiederzubeleben, indem Kommunikation mit dem Leser wieder dort stattfindet, wo »Beleidigungen geprüft, Autoren sich wechselseitig beobachten, die schlimmsten Nervensägen Gefahr laufen, öffentlich benannt zu werden«, nämlich in der Zeitung, ist keine wirkliche Alternative.

Es ist wie mit der Erfindung des gedruckten Wortes vor mehr als 500 Jahren. Einmal in der Welt verlor die Gelehrten-Elite ihr Lese- und Schreibprivileg und damit auch das exklusive Recht auf Gedankenverbreitung. Wenn die Menschen lesen und schreiben können, dann wollen sie auch lesen und schreiben dürfen. Für die heutigen Schriftgelehrten - Journalisten und berufsmäßige Blogger - heißt dies: Entweder man schaltet ab oder man lernt, den Irrsinn aushalten zu können.

Der Autor ist Medienredakteur dieser Zeitung.

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