Über das schwierige Leben als Anarchist

Die Edition der Tagebücher des Anarchisten Erich Mühsam (1878-1934) erfreuen sich großer Beliebtheit

  • Lesedauer: 4 Min.
Im Berliner Verbrecher-Verlag erscheint eine auf 15 Bände angelegte Ausgabe der Tagebücher Erich Mühsams. Niels Seibert sprach mit dem Verleger Jörg Sundermeier.
nd: Wird dieses Projekt Geld in die Kasse Ihres kleinen Verlags spülen?
Als wir das Projekt starteten, haben wir mit keinem großen Gewinn kalkuliert, aber inzwischen ist es schon weit über unsere Erwartungen lukrativ. Ich gehe davon aus, dass wir aufgrund der enormen euphorischen Aufnahme sowohl vonseiten der Medien als auch vonseiten der Leserinnen und Leser, die Ausgabe mit großer Gelassenheit zu Ende führen können und dann auch tatsächlich alle einen kleinen Gewinn erzielen.

Wie erklären Sie sich das große Interesse an Erich Mühsam?
Mühsam ist durch seinen brutalen Tod im KZ Oranienburg und durch Gedichte wie »Der Lampenputzer« bekannt. Aber vieles von Mühsam, viele Buchtitel und auch viele seiner Sentenzen sind nicht mehr geläufig. »Sich fügen heißt lügen«, das kennt jeder, aber anderes ist vergessen wie das wunderbare »Es ist ein großer Schweinehund, dem jeder Sinn nach Heine schwund«. Die Tagebücher wecken deshalb das Interesse, den unbekannten, ungefilterten Mühsam, der so vieles offen zu Protokoll gibt, kennenzulernen.

In den bislang erschienenen frühen Tagebüchern geht es um ein Bohème-Leben, in dem Mühsam sein privates Leben nach anarchistischen Prinzipien zu leben und zu ordnen versucht. Es ist unterhaltsam, wenn er erzählt, wie viele Amouren er parallel hat, auf der anderen Seite entsetzt ist, dass eine von den Damen auch mit jemand anderem nach Hause geht; wenn er sich dann die Eifersucht verbietet, stolz auf sich ist, dass er nicht eifersüchtig ist und am nächsten Tag einen Eifersuchtsanfall bekommt.

Das Interessante daran ist, dass er in seinem eigenen Leben versucht, seine Haltung zu bewahren, aber auch zeigt, wie sehr man mit sich selbst ringen muss, um diese Haltung durchzusetzen und wie widersprüchlich das oft ist.

Was fasziniert Sie an dem Anarchisten Mühsam?
Erich Mühsam ist mir in vielerlei Hinsicht grundsympathisch. Er wurde aufgrund seiner Positionen aus fast allen Verbänden ausgeschlossen, aber auch aufgrund seiner Kompromisslosigkeit. Diese wiederum ging nicht d'accord mit gewissen politischen Linien verschiedener sozialistischer oder anarchistischer Parteien, denen er sich angenähert hatte. Er war zwar durchaus noch ein gefragter Redner, aber als aktives Mitglied vieler Gruppen nicht mehr erwünscht. Er wollte und konnte sich unter keine Vereinsordnung einsortieren. Das finde ich bewundernswert.

Welche Debatten erhoffen Sie sich durch die Herausgabe der Bücher?
Mühsams Texte lesen die meisten, glaube ich, leider nur als Dokumente aus der Vergangenheit: Nicht nur der Autor ist tot, auch diese Bohème ist tot. Viele, die ihn heute lesen und ihn toll finden, würden sich über denselben Menschen aufregen, wenn er hier und jetzt so leben und sprechen würde. Es gibt also einen zeitlichen Abstand, der das alles in einem milden Licht erscheinen lässt. Das finde ich sehr schade. Deswegen glaube ich nicht, dass die Tagebücher unmittelbar in eine Debatte eingreifen werden, oder man mithilfe dieser Tagebücher in Debatten eingreifen kann.

Ihr Verlag zeichnet sich nicht gerade durch ein anarchistisches Verlagsprogramm aus. Warum geben ausgerechnet Sie die Tagebücher heraus?
Niemand anderes wollte es zu den Bedingungen der Herausgeber tun. Die meisten Verlage wollten entweder entsetzlich viel Geld oder das Projekt nicht in dem Umfang anfassen. Wir waren dann die Verrückten, die zu diesem verrückten Projekt am besten passten.

Zeitgleich mit den gedruckten Ausgaben erscheinen die Tagebücher auch im Internet für jeden frei zugänglich. Steckt dahinter eine anarchistische Idee?
Ja, das war eine Bedingung der beiden Herausgeber. Dank der sehr umfangreichen Online-Edition, die jede einzelne Seite in Mühsams Handschrift und zum Beispiel ein Personenverzeichnis enthält, erhalten wir von Lesern neue, ergänzende Informationen. Der gesamte Apparat ist für alle online einsehbar und die gedruckte Edition bietet ein bezahlbares und vor allem schönes Lesevergnügen.

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