Landkarte der Zeit

Weshalb unsere Kultur uns Beine macht

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie schnell Fußgänger unterwegs sind, hängt nicht nur von ihren Plänen, ihrem Alter und ihrer Gesundheit ab. Es gibt auch kulturelle Unterschiede - selbst innerhalb eines Landes.

Wissenschaftler sind immer froh, wenn sie etwas messen können, warum also nicht auch die Geschwindigkeit von Fußgängern. Aus diversen Studien lässt sich für Europäer und US-Amerikaner ein mittleres Gehtempo von etwa 4,8 Kilometern pro Stunde ableiten, wobei Männer um etwa zehn Prozent schneller laufen als Frauen. Die allermeisten Menschen sind beim ungehinderten und zielstrebigen Gehen, also weder gebremst durch andere noch müßig schlendernd, mit 4,5 bis 5,2 km/h unterwegs. Dabei machen sie im Durchschnitt zwei Schritte pro Sekunde, von denen jeder sie rund 65 Zentimeter weit trägt. Diese Angaben gelten nicht überall auf der Welt. In Afrika und Asien zum Beispiel sei »mit anderen Werten zu rechnen«, sagt Ulrich Weidmann vom Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich. Nicht überall hastet man schließlich so wie in New York, Paris oder Berlin.

In seinem ebenso aufschlussreichen wie unterhaltsamen Buch über den Umgang diverser Kulturen mit der Zeit hat der US-amerikanische Psychologe Robert Levine schon vor 15 Jahren untersucht, wie flott Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu Fuß sind. Denn wenn Deutsche sich auf die Socken machen, qualmen diese eher als bei Jordaniern, Namibiern oder Menschen in Singapur - und das nicht nur, weil Socken in den genannten Ländern eher unüblich sind. Beim Versuch, das jeweilige Lebenstempo in 31 Ländern herauszufinden, ließ Levine seine Helfer - durchaus angreifbar - dreierlei messen: erstens die Genauigkeit der Uhren, zweitens den Zeitaufwand beim Kauf einer Standard-Briefmarke im Postamt und drittens die hier allein interessierende Gehgeschwindigkeit. Das Ergebnis: Die gemächlichsten Geher in der Auswahlgruppe sind die Brasilianer, gefolgt von den Rumänen und den Syrern. Die flottesten hingegen sind die Iren, es folgen die Niederländer und dann die Schweizer - die im Gesamturteil nach allen drei Kriterien erstaunlicherweise den Spitzenplatz einnehmen, ganz entgegen gängigen Vorurteilen, sie seien eher behäbige Menschen. Die Deutschen rangieren beim Gehtempo auf dem 5. Platz und insgesamt auf Platz 3.

Die Schlusslichter beim Endresultat in allen drei Disziplinen sind übrigens Brasilien, Indonesien und ganz am Ende Mexiko. Levines schonungsloses Fazit: »Die Langsamkeit durchdringt in diesen Ländern das tägliche Leben bis ins Mark.« Doch warum auch hetzen, wenn sich eh kaum jemand nach der Uhr richtet und zum Beispiel die Brasilianer problemlos bereit sind, auf Spätankömmlinge bei einem Kindergeburtstag durchschnittlich 129 Minuten zu warten - neun Minuten länger, als solche Feiern in Levines Bekanntenkreis an der Westküste der USA zu dauern pflegen. Und wer in Brasilien bei solchen Anlässen fast eine Dreiviertelstunde zu früh kommt, erscheint durchaus noch rechtzeitig.

Andere Völker, andere Sitten. Und daraus lernen wir: Wo die Uhren meist genau gehen, machen sie uns Beine. Um die Deutschen - und die Schweizer zumal - etwas zu entspannen, würde es vielleicht reichen, die Sekundenzeiger zu verbieten. Doch das triebe die Hersteller vielgerühmter Präzisionsuhren auf die Barrikaden, und zwar in Sekundenschelle.

Beim Gehtempo gibt es sogar regionale Unterschiede. Chemnitzer Psychologen haben sich vor einigen Jahren die Mühe gemacht, innerhalb Deutschlands flotte und gemächliche Fußgänger ausfindig zu machen. Sie legten sich auf die Lauer und maßen das Gehtempo von rund 6000 Passanten in 20 Städten. So konnten sie ermitteln, dass Männer etwas eiliger als Frauen sind und die Geschwindigkeit von Norden nach Süden »tendenziell abnimmt«. Auch gehen in größeren Städten die Menschen etwas flinker als in kleineren. Dörfler wurden nicht einbezogen, was die vergleichsweise hohen Werte erklären mag. Hier sind sie: Die deutschen Schnellgeher, zumindest nach dieser Studie, leben in Hannover und Dresden (fast 5,4 km/h); die Südwestdeutschen in Saarbrücken und Trier bewegen sich mit 5 km/h etwas behäbiger voran.

Ihren besonderen Reiz gewinnt die Chemnitzer Erhebung daraus, dass die Passanten auch nach ihrer Lebenssituation befragt wurden. Gefühle, Absichten und Fitness steuern auch unser Gehtempo: Wer niedergeschlagen ist, trottet dahin; wer seinen Eltern ganz aufgeregt von einem Lottogewinn berichten will, nimmt die Beine in die Hände. Typisch ist Eile für sehr konkurrenzbewusste, aufstiegsorientierte Menschen mit engem Terminplan, von denen Mediziner wissen, dass sie überdurchschnittlich oft Herz-Kreislauf-Leiden entwickeln, vor allem wenn sie keinen Ausgleichssport betreiben und sich nicht gesund ernähren.

Ob schnelleres oder langsameres Gehen ratsamer ist, lässt sich indes nicht einfach sagen, schon weil flinkeres Gehen das Herz-Kreislauf-System besser trainiert als mußevolles Dahinschlendern. »Einerseits konnten wir feststellen, dass in Städten mit höherem Lebenstempo altersbereinigt mehr Menschen an Herzgefäßerkrankungen sterben, andererseits scheint dort aber die Lebenszufriedenheit etwas höher zu sein«, sagt der Hamburger Gesundheitspsychologe Olaf Morgenroth, der die Chemnitzer Studie seinerzeit leitete.

Klarer ist das Fazit, das Robert Levine in seinem Zeit-Buch zieht. »Schnelle Orte sind reizvoll für schnelle Menschen, und schnelle Menschen erzeugen schnelle Orte.« Krank macht letztlich nicht das höhere Tempo, sondern ein schnellerer Schritt ist Menschen eigen, die durch ihren Charakter und ihre Lebensweise häufiger an Herzleiden erkranken - Stress-Typen eben. Hoffentlich nehmen sie wenigstens nicht den Aufzug und hasten stattdessen die Treppen hoch. Das hält sie wenigstens länger fit.

Robert Levine: »Eine Landkarte der Zeit«, Piper Verlag; brosch., 320 S., 9,95 Euro.

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