Nur stille, stille ...

Gerhart Hauptmann auf Hiddensee - ein deutsche Geschichte

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 9 Min.

In der mondhellen Nacht des 29. Juli 1885, die Gefährten schlafen, erhebt sich ein unruhiger Zweiundzwanzigjähriger von seinem Reiselager und wendet sich zum offenen Meer. Dort sieht er die schäumenden Wellenkämme, hört das Donnern der Brandung - und dichtet. Unaufhörlich bläst das Meer eherne Posaunen … Der junge Mann heißt Gerhard Johann Robert Hauptmann. Erst zwei Jahre später wird er darum bitten, »Gerhart« gedruckt zu werden: Gerhart Hauptmann.

In jener Julinacht 1885, in der das Gedicht »Mondscheinlerche« entsteht, ist er noch ein Unbekannter. Den erlernten Beruf des Landwirts hat er aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben, aus der Bildhauerklasse der Königlichen Kunst- und Gewerbeschule zu Breslau ist er wegen Disziplinlosigkeit und Faulheit ausgeschlossen worden, hinter ihm liegen Reisen nach Spanien und Italien, unter anderem nach Capri, eine gescheiterte Bildhauerkarriere in Rom. Gerade hat er die Bankierstochter Marie Thienemann geheiratet, von deren Geld er lebt; sie verbringt die Nacht auf Rügen, morgen wird er sie wieder treffen …

Es ist Hauptmanns erste Begegnung mit Hiddensee. Elf Jahre später kehrt er zurück, um fortan, bis 1943, viele Sommer hier zu verbringen. Am 28. Juli 1946 wird er auf der Ostseeinsel, auf dem alten Friedhof in Kloster, seine letzte Ruhe finden.

Heute ist jeder Schritt Gerhart Hauptmanns auf Hiddensee dokumentiert. Grandiose Auftritte eines Granden - zu Lebzeiten Nationaldichter Deutschlands, selbst empfundener Wiedergänger Goethes, seit 1912 Literaturnobelpreisträger, umworben von der Weimarer Republik, dem »Dritten Reich«, der SBZ und späteren Repräsentanten der DDR, keiner Staats- und Gesellschaftsform abgeneigt und auf den Bühnen der Welt, neben Bertolt Brecht, von allen deutschsprachigen Dramatikern des 20. Jahrhunderts der meistgespielte.

Wann er die Insel besuchte und wo er logierte - wir wissen es also en détail. Wir wissen, dass ihn 1896, im Jahr seiner ersten Rückkehr, seine blutjunge Geliebte Margarete Marschalk begleitete, die er, nach angemessener Seelenqual und der Scheidung von Marie, 1904 heiratete - welch Fressen für den Boulevard, hätte der damals schon von der Leidenschaft des aufrührerischen Dramatikers für Kindfrauen etwas geahnt. Wir wissen, dass Hauptmanns »Capri des Nordens« neben Agnetendorf in Schlesien sein zweiter Lebensmittelpunkt wurde, wo er Ruhe zur Arbeit fand und über das er angstvoll notierte: » … nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde«. Und wir wissen, dass die Welt dennoch über das stille Eiland hereinbrach. Ja, wir kennen sie, all die schillernden Namen, mit denen sich »das geistigste aller deutschen Seebäder« bis in unsere Tage schmückt: Albert Einstein, Käthe Kollwitz, Friedrich Hollaender, Ernst Toller, Sigmund Freud, Lion Feuchtwanger, Carl Zuckmayer, Billy Wilder, Gustaf Gründgens, Otto Gebühr, Joachim Ringelnatz, Asta Nielsen. Und wie wir nun in der Ortschaft Kloster unter dem weiten hellblauen Himmel stehen, hören auch wir den Sprosser singen, sehen die flippige, freie Gesellschaft und den Bildhauer Max Kruse, der durchs Fernglas von seiner Lietzenburg aus die frechen Nacktbader belauert, sehen am Strand Magda Bauer und ihre Mädchen, deren anmutiger Tanz Hauptmann die Idee zu seinem Roman »Die Insel der großen Mutter« schenkt. Und da läuft er auch selbst am Strand entlang, absolviert seinen Morgenspaziergang, gehüllt in die Franziskanerkutte, die er 1912 im italienischen Kloster Santa Margeritha erstand, und wir wundern uns kein bisschen …

Natürlich, auch die Pikanterien, auf die sich, begäben sie sich erst heute, nicht allein der Boulevard, sondern auch das Feuilleton stürzte (manchmal ist da kein Unterschied), sind längst schon Teil der Inselfolklore. Dennoch gehören sie hierher, denn über Hauptmann auf Hiddensee zu erzählen, ohne sie auch nur zu erwähnen, wäre so, als würden wir alkoholfreien Wein servieren. Zu berichten ist davon, dass Hauptmanns im Sommer 1924 Thomas Mann und Familie ermunterten, Zeit mit ihnen auf der Insel, in Frau von Sydows Hotel »Haus am Meer« zu verbringen. Was in jenem Sommer geschah, ist in Katia Manns Erinnerungen »Meine ungeschriebenen Memoiren« nachzulesen. »Unsere Nachbarschaft in Hiddensee war etwas ärgerlich«, schrieb sie, »weil Hauptmann doch der König von Hiddensee war … Nun war er aber dermaßen eindeutig der König, dass für uns dort wenig Aufmerksamkeit abfiel … Das Ganze war etwas verdrießlich.« Verdrießlich wurde jener Besuch letztlich bekanntlich auch für den »König«. Als man im Appartement der Hauptmanns Katia Manns Geburtstag feierte, hatte der »Zauberer« ihn beobachtet und sich Notizen gemacht. Als Ger- hart Hauptmann wenig später Manns »Zauberberg« in den Händen hielt, begeisterte ihn die Lektüre - bis ihn die Figur des Mynheer Peeperkorn ansprang. Der Holländer trug Wollkleidung, Knickerbocker, einen weißen Haarkranz, redete unzusammenhängend und trank viel - wie er selbst. Wütend kritzelte er an den Rand: »Dieses idiotische Schwein soll Ähnlichkeit mit meiner geringen Person haben?« Im April 1925 entschuldigte sich Thomas Mann bei Gerhart Hauptmann. Obwohl er mit seiner Charakterisierung des Hauptmann-Peeperkorn gar nicht so daneben gelegen hatte: »Ein eigentümlicher, persönlich gewichtiger, wenn auch undeutlicher Mann«, hatte er formuliert.

Anders als über Literatur fällt das Urteil über ein Leben nicht schon nach den ersten Sätzen, sondern erst nach dem Schlusskapitel. Wie sich der Ton solcher Urteile nach Interessenlage ändert, lässt sich auch aus den Schriften erlesen, die sich im gläsernen Pavillon am Fuße des Hauses »Seedorn« finden. Den Pavillon hat die Gerhart-Hauptmann-Stiftung im Frühjahr dieses Jahres eröffnet, jährt sich doch der Geburtstag des Dichters (25. November 1862) zum 150. und seine Stockholmer Ehrung zum 100. Mal. »Haus Seedorn«, kann sich die Stiftung rühmen, ist Hauptmanns einziger original erhaltener Wohnsitz.

Das Haus in Kloster hat Gerhart Hauptmann 1930 erworben - der Name eine Anspielung auf den damals noch allgegenwärtigen Sanddorn. Im Winter 1930/31 beauftragte er den Architekten Arnulf Schelcher, einen Anbau auszuführen - ein großes Arbeitszimmer mit Terrasse, einen Raum für die Abendgesellschaft, als Verbindung zwischen Wohn- und Arbeitsbereich einen »Kreuzgang«, darunter einen großen Weinkeller.

Ein schönes, schlichtes, lichtes Haus. Frische Sommerblumen in gläsernen Vasen, wertvolle Bilder und Plastiken, ein Stehpult im Goe- theschen Gestus, auf der Terrasse wuchernder Efeu, gezogen aus einem Ableger des Gewächses an George Washingtons Sommerhaus, den man Hauptmann anlässlich seiner USA-Reise 1932 verehrte. Es hätten glückliche Jahre werden können.

Hätten nicht 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Hätten nicht hervorragende Künstler und jüdische Freunde Deutschland verlassen müssen. Wie der nach Prag geflüchtete Kritiker Alfred Kerr, der hoffte, ja erwartete, dass Hauptmann seine Stimme im Namen der Kultur gegen die Barbarei erhob. Er tat es nicht: Nur stille, stille ... Der Held der Weimarer Republik, der 1921 fast ihr Präsident geworden wäre, schwieg. Worauf Kerr, ganz enttäuschter Liebhaber, »Gerhart Hauptmanns Schande« in die Welt schmetterte: »Es gibt seit gestern keine Gemeinschaft zwischen mir und ihm, nicht im Leben und nicht im Tod. Ich kenne diesen Feigling nicht … Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden.« Thomas Mann dagegen, den Hauptmann 1924 für den Nobelpreis vorgeschlagen hatte, verteidigte ihn: »Ich kann es dem alten Hauptmann nicht übelnehmen, dass er schweigt. Was soll er sich um Habe und Vaterland reden?«

Feige war Hauptmann, daran bleibt kein Zweifel. Wie viele seiner Mitbürger. Kaum war Adolf Hitler Reichskanzler geworden, wischte er seine wohl erbärmlichsten Zeilen aufs Papier: »Was kann mir schon passieren? ... Ich bin alt. Außerdem habe ich für jede Partei ein Stück geschrieben: bei den Nazis kann ich mich auf ›Florian Geyer‹ berufen … bei den Kommunisten auf ›Die Weber‹ und bei den Klerikern aufs ›Hannele‹.« Aber: In diesen Zeilen ward offenbar, was sein Künstlertum, seine Persönlichkeit von Anbeginn präg- te - er war nie Aufrührer gewesen, nie ein proletarischer Dichter, für den man ihn fälschlicherweise hielt. Der Schöpfer von Dramen wie »Vor Sonnenaufgang«, »Die Weber« und »Der Biberpelz« hatte sich nie festgelegt. Deutschlands berühmtester Naturalist hatte beschrieben, was er sah - mit Sympathie für die kleinen Leute, doch ohne jede politische Absicht. Intellektuelles Wägen: kein schlechtes ästhetisches Konzept. Jedoch, sobald Unrecht Recht wird, ein denkbar schlechtes menschliches.

Und so war der »undeutliche Mann« in den schwarzen Jahren Deutschlands eben keineswegs nur feige - er fand sich »offen« für das Neue. Als die Mehrheit der Hiddenseer am 1. Mai 1933 den neuen Reichskanzler Hitler feierte, ließ er vor »Haus Seedorn« die Hakenkreuzfahne und die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs hissen. Wohlwollend empfing er Hitlerjungen, und in der Dorfkirche zeigte er sich bei der Sonnenwendfeier junger SA-Leute. Emi- grierten jüdischen Freunden riet er, recht bald mal wieder in Deutschland vorbeizuschauen. War er wirklich angewidert, als ihn am 15. November 1933, an seinem 75. Geburtstag, in der Berliner Philharmonie der »Führer« persönlich beglückwünschte? Ließ er sich wirklich nur benutzen, als er an seinem 80. Geburtstag aus den Händen Baldur von Schirachs den mit dem Hakenkreuz »verzierten« Ehrenring der Stadt Wien entgegennahm? Fühlte er, der Undeutliche, der Eitle sich nicht auch geschmeichelt?

Was Alfred Kerr 1933 als »Gerhart Hauptmanns Schande« bezeichnete, nannte Hans Mayer im Vorwort der 1962 im Aufbau-Verlag erschienenen Hauptmann-Ausgabe »Ausgewähl- te Werke« - nahezu gütig - die »Lebenstragödie des späten Ger- hart Hauptmann«. Man kann das so lesen, als sei Hauptmann etwas zugestoßen, ihm etwas geschehen. In der Tat war ihm etwas zugestoßen: Der Mensch hatte den Künstler beschädigt. Nun war Hans Mayer lebensweise genug, sich über den Umstand an sich nicht zu verwundern oder sich moralisch zu erheben. Zumal die DDR ein Erbe einfuhr. Trifft vielleicht zu, was Stefan Zweig 1933 zu Hauptmanns Verteidigung vorbrachte: dass dessen Werk an sich die Unantastbarkeit Hauptmanns bedeuten sollten? Das wäre schwer einzusehen. Und wenn heutige Literatur offener als je zuvor dem Verhältnis Hauptmanns zum Nationalsozialismus nachspürt, zeigt das nur, dass die Wunde offen liegt, dass die Faszination, die die »Bewegung« offenkundig ausübte, noch immer nicht bis ins Letzte erklärbar ist.

Wir stehen an Hauptmanns Grab. Der Efeu George Washingtons schmückt es. Am 28. Juli 1946, vor Sonnenaufgang, wurde der Dichter hier beigesetzt. Unter der Trauergästen der sowjetische Kulturoffizier Oberst Sergej Tulpanow, Wilhelm Pieck und Johannes R. Becher. Gestorben war Hauptmann schon am 6. Juni, in seinem »Haus Wiesenstein« in Agnetendorf - desillusioniert nach der Bombardierung Dresdens, die er hatte mit ansehen müssen. Noch im Oktober '45 hatte er in der »Täglichen Rundschau« seiner Verzweiflung Ausdruck verliehen: »Entschuldige, Goethe/ Ich nenne nicht mehr deine Historie ein Wunder,/ sondern Plunder ...« Sein Wunsch, in Schlesien beigesetzt zu werden, konnte wegen der beginnenden Vertreibungen nicht erfüllt werden. Auch die Urne Margarete Hauptmanns wurde später neben ihm beigesetzt, schräg gegenüber Sohn Benvenuto.

So ruhen sie inmitten der Toten der Hiddenseer Fischerfamilien, inmitten der Schlucks, Schliekers und Gaus. »Schluck und Jau« hatte Hauptmann in leichter Verbeugung einst eines seiner Stück getitelt. Das distanzierte Verhältnis der Inselbewohner zu ihm vermochte dies nicht zu bessern - sie hielten ihn für hochmütig. In seinen Protagonisten Schluck und Jau hatte übrigens später Joseph Goebbels »zwei notorische Trinker« gesehen, die er seinem »Freund Himmler zur Einweisung ins KZ übergeben« hätte. Man sieht: Auch heute noch löst sich jedes vermeintlich klare Urteil über Gerhart Hauptmann wieder auf in Widersprüche.

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