Plötzlicher Geruch nach Kiefern von der Düne und Windstöße vom Meer scheuchen die Autoabgase in Graal landeinwärts. Und unterm rotierenden Elektrowindrad von Müritz fragt man sich nun doch, was an Idylle noch zu finden sein wird.
Wodurch war denn Franz Kafka, wie andere Böhmen, auf diese Küste neugierig geworden? Als reger Zeitungsleser durch Annoncen in einem deutschsprachigen Prager Blatt. Durch den Freund Max Brod und die erste Verlobte Felice Bauer wusste er von dem »Volksheim« Berlin mit Ostsee-»Kinderhospiz«. Als nun Schwester Elli mit zwei Kindern dorthin zu reisen gedachte, beschloss er im Mai 1923, sich trotz aller Depressionen dem Vorhaben zuzugesellen. Sein Gesuch vom Vorjahr an die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt Prag um »Versetzung in den vorübergehenden Ruhestand bei Gewährung der Pensionsbezüge« (unterzeichnet »In tiefer Ehrfurcht Dr. Franz Kafka«) war ja positiv beschieden worden.
Die Gruppe begibt sich, mit Pässen der nach dem Krieg gegründeten Tschechoslowakei, vormittags von Prag-Holesovice (ex-österreichischer Franz-Josephs-Bahnhof) ins Deutsche Reich. An Berlin: Anhalter Bahnhof abends. Elli und Kinder fahren vor, er bleibt im ihm bekannten Hotel »Askanischer Hof« Königgrätzerstraße, um einer Verabredung zu folgen. Zwei Tage darauf, nach Durchquerung der City mit Bus/ Straßenbahn zum Stettiner Bahnhof, nimmt er den D-Zug nach Rostock, laut »Reichs-Kursbuch 1923« an 11.59Uhr. Umsteigen in den Personenzug nach Rövershagen. Eine Bahn zur Küste, aus DDR-Zeit bekannt, gibt es hier noch nicht, also mietet man die neumodische Motor- oder eine herkömmliche Pferdedroschke, was ein Vermögen kostet auf dem Höhepunkt der Inflation: Ein Dollar ist gleich 4,2 Billionen Mark! Dabei sind es bis Graal nur 10,3 km.
Ein Abend um den 3. Juli, seinem 40. Geburtstag, das Unternehmen quasi Geschenk der sechs Jahre jüngeren Schwester. Womöglich fühlen sich unsre Pilger bestätigt in ihrem Vertrauen auf die 1 300 km lange strapaziöse Rund-Wallfahrt, auch im Interesse des von »beidseitigem Lungenkatarrh« Gezeichneten? Dieser hat freilich gemeint, z.B. Karlsbad sei ein noch »größerer Schwindel als Lourdes«, das den Vorzug habe, »daß man seines innersten Glaubens wegen hinfährt« - was Freund Franz Werfel in dem Roman »Das Lied von Bernadette« zu demonstrieren versuchen wird.
Jedenfalls, Kafka findet das Meer »sehr beglückend«. Das Dorf hat etwa 300 Einwohner und nennt sich »Groß-Müritz«. Einem alten Schulkameraden, Hugo Bergmann, schreibt er um den 13. Juli: »50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienheim ... Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehn ... Steht das Gebäude noch? Der Rechercheur erkundigt sich bei Einwohnern der Strandstraße. Die Straße hat einen Knick, am Ende beim Wald ist die Nr.6, ein zweistöckiger Bau, im Zerfall. Klopfen erfolglos. An der Wand, noch lesbar, »Haus Huter«, darunter fast unleserlich »Kinderheim. Berliner Kinderheim E V« - also Eingetragener Verein aus der Zeit vor 1933. Mein »Scherls Straßenführer der Reichshauptstadt 1925« nennt als Eigentümer die Jüdische Gemeinde N 54, Dragonerstraße 22 (heute Max-Beer-Str.) im »Scheunenviertel« mit hebräisch beschrifteten Läden.
Wenn aber »50 Schritte« von Kafkas Balkon das Heim liegt, kann es nur die Pension Strandstraße 8 sein, »Haus Glückauf« damals, in der Kafka logierte. Und die Hinterhöfe der Nummern 6 und 8 liegen sich gegenüber. Ich verharre. Ein Ziel gefunden? Wenn er unter den Kindern sei, fühle er sich zwar »nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks«. Es seien »gesunde, fröhliche blauäugige Kinder«, stellt er am 10. Juli gegenüber Max Brod fest.
Gern gibt er sich auch ab mit des Wirts »dreijähriger Tochter« Christl. Die Pension verfügt über »Familienwohnungen, Zimmer, eigene Wasserleitung, Spültoiletten, Telephon, Küchen, vorzügliche Betten, Glasveranda«, hat »solide Preise«, »herrlichen Blick auf das Meer« (was nicht stimmte). Schon als Achtzehnjähriger hat Kafka Norderney und Helgoland besucht, dann Travemünde - das Meer sei seitdem in den »10 Jahren ... schöner, mannigfaltiger, lebendiger, jünger geworden«. Er korrespondiert mit Verleger Kurt Wolff. Im Strandkorb wird er von einer Sechzehnjährigen angesprochen, Tile Rössler, sie bringt ihn mit ins Heim zu einem »Oneg Sabbath«: »Heute werde ich mit ihnen Freitag-Abend feiern«, schwärmt er, »Ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben«. Und hier sieht er Dora Diamant.
Dieses »Gspusi« hat mir auch Gustav Janouch, von Forschern oft als zweifelhafter »Freund« abgewertet, sarkastisch ausgemalt bei einem Nachkriegsbesuch in Prag. Sei es das »wahre späte Glück« gewesen, in jenem »liederlichen Gartenwinkel« zwischen Haus Nr. 6 und 8, »sozusagen Romeo und Julia auf dem Dorfe« inklusive Balkon? Die Einundzwanzigjährige fasziniert ihn, Tochter eines polnischen Chassiden, politisch weit »links«, spricht deutsch und jiddisch. Sie ihrerseits sieht in ihm ihre Vorstellung vom Menschen bestätigt, auf den ersten Blick. Zwei Schwarmgeister finden sich. Dora ist anmutig, blond oder als eine Emanzipierte blondiert - ein »wunderbares Wesen«, wie er nicht eben taktvoll der in ihn verliebten Tile nach Berlin glaubt mitteilen zu müssen. Gegenüber Max Brod aber entschuldigt er sich quasi. »Um meine Transportabilität zu prüfen, habe ich mich nach vielen Jahren der Bettlägrigkeit ... zu einer kleinen Reise erhoben«.
Und zu dem Reigen jüngerer Frauen stößt die neunzehnjährige Puah Bentovim aus Jerusalem, im Vorjahr bei ihm in Prag, in Berlin haben sich die beiden verpasst, nun erinnert sie an den Übersiedlungsplan nach Palästina.
Fünf Gehminuten von der Pension Glückauf liegt das romantisch mit Turm aufgeputzte Restaurant »Malta« (dem Rechercheur eben noch als das kleine »Hotel Malta« bekannt). Bis zum Strand sind es ein paar Schritte, 200 m zum »Franz-Kafka-Weg« unsrer Ära. Dora und Franz treffen sich abends im »Malta«, - ob sie vielleicht zusammen nach Palästina auswandern könnten? Er wird Kellner, sie kümmert sich um die Küche, weiß ja Bescheid, sie habe dem Personal im Hospiz geraten, heut einzukaufen, morgen würde die Inflation alles unerschwinglich machen! Die Kinder sammelten im Wald schon Blaubeeren, Pilze. Dora will bereits zwei Novellen von Franz gelesen haben? Sie hegen Heiratsabsichten. Gegenüber einer weiteren Auserwählten seines Reigens, Else Bergmann in Prag, nennt er aber den Weg nach Jerusalem »im geistigen Sinne« die »Amerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat« - der Vergleich ist dem Theaterstück »Von morgens bis mitternacht« entlehnt, dessen Autor Georg Kaiser ihn im Frühling im Krankenhaus besucht hat, »fahrig fröhlich«, halb »Berliner Kaufmann«, halb »Verrückter«. Kafka weigert sich, am Zionistenkongress in Karlsbad teilzunehmen.
Anfang August begrüßt er den »ersten sonnigen Nachmittag seit langer Zeit«, das Klima hat der Lunge zugesetzt. Es gefällt ihm »nicht mehr so gut hier«. Schlaflosigkeit, Kopfschmerz plagen ihn. Und er ist »gar nicht sehr unzufrieden damit«, dass die Schwester, von ihrem Mann abgeholt, nicht erst Mitte August zurückreist, sondern schon am 7. August. Die »kleine Reise«, gescheitert. Von Prag aus, nach Wochen der Unschlüssigkeit, begibt sich Kafka am 24. September nach Berlin, zu der dort seiner harrenden Dora Diamant!
Eine »tollkühne Tat«!
Keine Reise wie nach Graal, Lourdes oder Palästina, aber vielleicht zu einer Eurydike, neuer Muse? Der Rückblick für einen Verlagslektor im »Riesendorf Wien« ist gespalten: Was von früher von ihm vorläge, sei »gänzlich unbrauchbar« - doch in »letzter Zeit« sei er »weit abseits« zum Schreiben geradezu »getrieben« worden. Zunächst freilich erhält Dora den Auftrag, Arbeiten von ihm zu vernichten. Aus der Miquelstraße 8 beim Vermieter Hermann im teueren Dahlem (von der Forschung unter vier Miquelstraßen verwechselt mit der Steglitzer) zieht das Paar im November in die Villa Grunewaldstraße 13 zwischen Rathaus Steglitz, Fichteberg und Botanischem Garten. Die Wirtin, Frau Seifert, wird sich nach dem Krieg gegenüber dem Rechercheur ihres »Sonderlings« von Untermieter erinnern und sich dabei empören, ihr Mann, angesehener Jurist, sei als »angeblicher Nationalsozialist oder Antisemit fünfundvierzig von den Russen abgeholt« worden und nicht wiedergekehrt, ja, viele Kisten im Keller mit Schriftstücken verloren!
Vom Verleger Kurt Wolff erhält Kafka 27 Exemplare seiner Bücher - wegen »Unverkäuflichkeit«. In einer Art Trotz ersucht er die Arbeiter-Unfall-Versicherung um »Zustimmung«, von der ihm in Müritz von Dora Diamant angebotenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, mit ihr zusammen in Steglitz zu bleiben. Nach dem Krieg wird sich Dora entsinnen, er habe in der Villa in einer einzigen Winternacht die Erzählung »Der Bau« beendet.
Frau Seifert kündigt den »armen zahlungsunfähigen Ausländern« die Wohnung. Diese ziehen nach Zehlendorf zur Witwe des Literaten Carl Busse (aus Birnbaum/Grenzmark wie der Maler Lesser Ury). Kälte, wirtschaftliche Not, Depression. Wegen seiner Atemwegsleiden verlässt Kafka die Stadt am 17. März 1924. Im April erfordert die Kehlkopftuberkulose Aufnahme ins Sanatorium Kierling/Klosterneuburg, Österreich. Hier stirbt er am 3. Juni. Beisetzung auf dem Neuen Jüdischen Friedhof Prag. Dora bricht am Grab zusammen.
Sieben Jahre später erscheint »Der Bau« im Gustav Kiepenheuer Verlag Berlin, Erzählung von einem »Ich«, einem Tier. Es hat im Wald unter Moos ein »Haus«, ist geneigt, »hinabzusteigen« und »niemals« zurückzukommen. Mein erster Verleger, Ladislaus Somogyi im Nachkriegs-Berlin mit Briten-Lizenz für Der Neue Geist Verlag, erhält von dessen unter den Nazis nach New York emigriertem Gründer Kurt Wolff die Rechte auf den Anfang des Amerika-Romans, »Der Heizer«, »Streifenbuch«-Reihe 1947, gedruckt aber im Eisnerhaus, Sowjetsektor. Der vergessene Franz Kafka wird nun endgültig entdeckt.
Somogyi aber, einst Kurt Wolffs Mitarbeiter, weist mir Spuren von Dora Diamant. Die Chassidin war Kommunistin geworden, hatte in Berlin um 1930 Lutz Lask geheiratet, Redakteur des KPD-Zentralorgans »Die Rote Fahne«, folgte ihm in die Emigration nach Moskau, wo er Stalins Opfer wird, ihr glückt die Flucht nach London. 1948 begegne ich ihr hier, einer Trotzkistin, hier stirbt sie 1952. Ein Jahrzehnt später mache ich das erste Foto des neugestalteten Grabes Kafkas.
Und hinsichtlich jener »Transportabilität« des Todkranken damals frage ich Gustav Janouch, hätte er nicht den Paniklauf des Freundes durch halb Europa unter widrigsten Umständen als schieren Wahnsinn verhindern helfen müssen? - »Verhindern?« Janouch keucht im Qualm der Lokomotive auf dem Bahnsteig Prag-Holesovice: »Als Franz zu Dora wollte? Hab ich ihm nicht noch die Billetts helfen lösen müssen in die Unterwelt?«
Joachim Seyppel, geboren 1919 in Berlin-Steglitz, Dr.phil., war vor seiner Einberufung zur Hitler-Wehrmacht Schauspieler und Landarbeiter. Wegen Wehrkraftzersetzung neun Monate in Haft. Nach Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Dozent und Schriftsteller in Westberlin. 1949 Übersiedlung in die USA, wo er bis 1960 deutsche Sprache und Literatur an Universitäten und Colleges lehrte. Danach Rückkehr nach Westberlin und 1973 Übersiedlung in die DDR. 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR mit acht weiteren Kollegen ausgeschlossen. Danach Rückkehr in die BRD. Lebt heute in Hamburg und sommers zeitweise unweit der Ostsee. Bekannt durch zahlreiche Romane und Erzählungsbände, darunter »Abendlandfahrt«, »Columbus Blujeans«, »Ein Yankee in der Mark«, »Die Mauer oder das Cafe am Hackeschen Markt«. Derzeit lieferbar sind sein Roman »Die Wohnmaschine«, seine Biografien über Gerhart Hauptmann und Lesser Ury und sein Erinnerungsband »Schlesischer Bahnhof«. Joachim Seyppel ist schon seit langem mit Forschungen zu Franz Kafka befasst.
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