Der Kampf um die Zeit

Von Julius Cäsar zur Swatch-Time: Die wechselvolle Geschichte der Kalenderreformen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Wir schreiben heute das Jahr 2002 unserer Zeitrechnung. Oder, wie viele Menschen hier zu Lande glauben, das Jahr 2002 nach Christi Geburt. Dabei wissen wir nicht einmal genau, wann der historische Jesus geboren wurde. Denn die christliche Chronologie der Menschheitsgeschichte ist ein Produkt des 6. Jahrhunderts und stammt aus der Feder des armenischen Mönches Dionysius Exiguus, der die historischen Ereignisse traditionsgemäß »ab urbe condita« datiert hat, das heißt seit der Gründung Roms. Davon ausgehend legte er das Geburtsdatum von Jesus auf den 25. Dezember 753 ab urbe condita und bestimmte das darauf folgende Jahr zum Jahr 1 der christlichen Zeitrechnung. Bei der Zählung der vielen römischen Herrschaftsperioden scheint ihm jedoch ein Fehler unterlaufen zu sein. Denn im Neuen Testament ist von König Herodes die Rede, der bei der Geburt von Jesus in Jerusalem regierte. Diesen Herodes hat es wirklich gegeben, er starb 4 v. Chr. in Jericho. Mithin konnte auch Jesus nicht später auf die Welt gekommen sein, vermutlich sogar ein paar Jahre früher. Mag für viele Christen das Weihnachtsfest auch das höchste Fest des Jahres sein, im Zentrum der Botschaft Jesu steht dessen Kreuzigung und Wiederauferstehung. Folglich beruht der christliche Kalender auf der genauen Festlegung des Ostertermins, wovon sich alle weiteren Feste des Kirchenjahres ableiten. Nach langen, teils heftigen Diskussionen wurde auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 beschlossen, Ostern immer am ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond zu feiern, das heißt frühestens am 22. März und spätestens am 25. April. Damit verfolgten die Kirchenoberen die Absicht, den Ostertermin vom Termin des jüdischen Passahfestes abzutrennen. Grundlage der christlichen Zeitrechnung blieb jedoch der römische Kalender, den Julius Cäsar 46 v.u.Z. per Dekret in Rom eingeführt und damit die Jahreslänge auf 365,25 Tage festgelegt hatte. Das waren, gemessen an heutigen astronomischen Kenntnissen, elf Minuten und 14 Sekunden zu viel, weswegen der Julianische Kalender fortwährend hinter dem Sonnenstand zurückblieb, in etwa 128 Jahren um einen Tag. Das wiederum hatte zur Folge, dass man das Osterfest im Laufe der Jahrtausende immer früher feiern musste, früher sogar als die Beschlüsse von Nizäa es zuließen. Um das zu verhindern, gab es verschiedene Anläufe zu einer Kalenderreform, an denen unter anderem Nikolaus von Kues, Nikolaus Kopernikus und Tycho Brahe beteiligt waren. Doch erst am 24. Februar 1582 verfügte Papst Gregor XIII. in der Bulle »Inter Gravissimas«, dass das Kalenderjahr wieder an das Sonnenjahr anzugleichen sei. Die Lösung war einfach und genial: Man ließ auf den 4. Oktober 1582 gleich den 15. Oktober 1582 folgen. Außerdem wurden weniger Schaltjahre eingeführt, so dass Kalender- und Sonnenjahr nur noch um 26 Sekunden voneinander abweichen und unsere Zeitrechnung erst im Jahr 4905 gegenüber dem Sonnenkalender um einen Tag nachgehen wird. In katholischen Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien stieß die Kalenderreform auf wenig Widerstand. Anders in Deutschland, wo wegen der konfessionellen Rivalität zwischen Katholiken und Protestanten am Ende des 16. und während des 17. Jahrhunderts zwei Zeitrechnungen galten. Mitunter löste die Einführung des Gregorianischen Kalenders sogar blutige Unruhen aus, wie 1583 bis 1591 in Augsburg, wo der Rat der Stadt katholisch, die Bevölkerung jedoch mehrheitlich protestantisch war. Erst 1699 beschloss die protestantische Partei im Reichstag, sich der Reform Gregors anzuschließen. Damit galt in Deutschland, von wenigen Ausnahmen abgesehen, überall der Gregorianische Kalender. England und dessen Kolonien in Nordamerika zogen 1752 nach, Schweden folgte 1775. Andere Länder wie China, Griechenland oder die Türkei führten den neuen Kalender erst im 20. Jahrhundert ein. Auch die russischen Zaren weigerten sich beharrlich, die päpstliche Kalenderreform zu übernehmen. Es war Lenin, der diesen Schritt per Dekret im Jahr 1918 nachholte - »in der Absicht, mit allen zivilisierten Ländern der Welt zu harmonisieren«. Die christliche 7-Tage-Woche ließ der Sowjetführer hingegen unangetastet, vielleicht eingedenk des gescheiterten Kalenderexperiments der Französischen Revolution, das auf dem Anspruch einer rationalen Beherrschung der Zeit durch den Menschen gründete. Danach sollten in Frankreich, einem Gesetz vom 24. November 1793 zufolge, die Jahre nicht mehr nach Christi Geburt, sondern ausschließlich nach den »années de la République«, den Jahren der Republik, gezählt werden. Der erste Tag des Revolutionskalenders war der 22. September 1792, der Tag der Abschaffung der Monarchie. Zwar hatte das Jahr auch weiterhin zwölf Monate, diese jedoch wurden dezimalisiert und bestanden fortan aus drei »Wochen« zu je 10 Tagen. Allein die Tatsache, dass auf einen Sonntag neun Arbeitstage kamen, löste in der Bevölkerung einen solchen Unmut aus, dass Napoleon am 1. Januar 1806 den Gregorianischen Kalender gleichsam rehabilitierte. 1929 wagte auch die Sowjetführung ein großes Kalenderexperiment, das in erster Linie ökonomisch motiviert war. Um nämlich zu gewährleisten, dass die mit kostbaren Devisen bezahlten Maschinen maximal ausgenutzt wurden, ließ Stalin das Jahr in 73 »rollende Wochen« zu je fünf Tagen aufteilen. Von wenigen Feiertagen abgesehen, gab es in diesen Wochen keinen einheitlichen Ruhetag mehr. Das heißt: Nach jeweils vier Arbeitstagen erhielt jeder Werktätige einen Tag frei, so dass stets 20 Prozent der berufstätigen Menschen am Arbeitsplatz fehlten. Dieser Wochenablauf störte nicht nur das familiäre Zusammenleben, sondern den Produktionsprozess selbst, da bei Arbeitsbesprechungen oder Konferenzen oft wichtige Leute fehlten. Als Stalin sich schließlich entschloss, wieder zur 7-Tage-Woche zurückzukehren, schrieb man bereits das Jahr 1940. Rückblickend betrachtet gab es nur wenige Reformvorschläge, die als Alternative zum Gregorianischen Kalender ernsthaft in Erwägung gezogen wurden. Dazu gehört zweifellos der 1931 entworfene Weltkalender, demzufolge jedes Quartal des Jahres aus einem 31-tägigen sowie zwei 30-tägigen Monaten besteht. Das ergibt eine Jahreslänge von 364 Tagen, wobei der noch fehlende Tag einfach an das Jahr angehängt wird. Dieses Modell hat den Vorzug, dass die Monatstage immer auf die gleichen Wochentage fallen, der 1. Januar beispielsweise immer auf einen Sonntag. 1953 wurde sogar in der UNO über die Einführung des Weltkalenders abgestimmt. Doch die Mehrheit der Staaten sprach sich dagegen aus. Vor vier Jahren schließlich regte der US-Medienwissenschaftler Nicholas Negroponte die Konstruktion einer Internet-Zeit an, die inzwischen als »Swatch-Time« bekannt ist. Diese unterteilt den Tag in 1000 gleiche Zeiteinheiten, so genannte beats, die eine Minute und 26,4 Sekunden lang sind. Und ihr Bezugspunkt ist nicht mehr Greenwich, sondern Biel in der Schweiz, wo die Firma Swatch ihren Sitz hat. Mit anderen Worten: Wenn die Internetuhr @000 Swatch beats anzeigt, ist es im deutschsprachigen Raum Mitternacht. Besonders Briten und Amerikaner halten dies für »Germanozentrismus« und verweigern sich der eidgenössischen Internet-Zeit.
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