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Mutti als Mörderin

Helga Schneider: »Laß mich gehen«

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 3 Min.
Dieses Buch ist ein Ärgernis, und das bleibt es, auch wenn man seiner Verfasserin all die Gefühle abnimmt, mit denen sie es überfrachtet. Helga Schneider, Jahrgang 1937, ist in Berlin aufgewachsen. Ihre Großeltern waren Österreicher, die Mutter eine stramme Nazine. Sie verließ 1941 die Familie - den Mann, die Kinder Helga und Peter -, um als SS-Aufseherin in Sachsenhausen, Ravensbrück und Birkenau Häftlinge zu drangsalieren. In Ravensbrück war sie an medizinischen Experimenten beteiligt, die von den Naziärzten an Frauen vorgenommen wurden. Helga Schneiders Vater heiratete, noch unter dem NS-Regime, ein zweites Mal; Helgas Stiefmutter war offenbar nicht viel besser als ihre Vorgängerin - eine herrschsüchtige, eigennützige und eingebildete Person, der das Mädchen ein ewiges Ärgernis war. Die verpfuschte Kindheit bestimmt Helga Schneiders Leben bis auf den heutigen Tag. Zweimal hat sie ihre leibliche Mutter wiedergesehen, jeweils in Wien, zuletzt 1998, in einem Pflegeheim irgendwo am Stadtrand. Von dieser letzten Begegnung mit der inzwischen Vergreisten berichtet sie in ihrem Buch, das der deutsche Verlag aus unerfindlichen Gründen als Roman ausgibt. Helga Schneider lebt seit 1963 in Bologna. Was sucht die Autorin in den zwei Stunden, die sie bei der alten uneinsichtigen Frau verbringt? Die kindliche Geborgenheit, die ihr vorenthalten wurde, die Einsicht in das, was geschah, und das Wissen, wie es geschah? Es ließe sich vermuten, auf Grund der bohrenden Fragen, die sie der Mutter stellt. Aber eigentlich will sie was anderes, nämlich die Erlösung - vom Trauma ihrer ersten Lebensjahre; von der Schuld, die sie ein Leben lang mit sich herumgetragen hat; von der Schmach, Tochter einer Mörderin zu sein, die auch angesichts des nahen Todes nichts bereut und mit wahrhaft obszönem Stolz, ebensolchem Selbstmitleid ihre Verbrechen gutheißt. Alle Versuche Helga Schneiders, in den Erinnerungen einzuhaken, die 87-jährige Frau gewissermaßen auszuhebeln, sind zum Scheitern verurteilt. Die Begegnung wird ihr nicht zur Befreiung. Die Mutter ist am Ende der Besuchszeit immer noch die, die sie zuvor war. Und unverändert tragisch ist auch die Existenz der Tochter, der klar ist, »sie ist trotz allem meine Mutter, und wenn sie geht, geht ein Teil von mir mit ihr«. Diese Klage wäre noch kein Anlass, den Bericht ärgerlich zu finden. Bedauernswert, das schon, und verfehlt, denn mit der Aufgabe, eine Autorin von ihrer Kindheit zu erlösen, ist jede Leserin, jeder Leser überfordert. Aber da sind ja auch die Untaten der ehemaligen KZ-Aufseherin. Wichtig erscheinen sie nur im Konflikt zwischen Mutter und Tochter. Schneiders Blick auf die Opfer ist von dieser Auseinandersetzung geprägt, und das führt, paradoxerweise, dazu, dass er sich kaum von dem ihrer Mutter unterscheidet: Die Häftlinge von Ravensbrück und Birkenau werden nur als Haufen wahrgenommen, als »abgemagerte, entkräftete, völlig verzweifelte Jüdinnen mit kahlgeschorenen Köpfen und leerem Blick«, nicht in ihrer jeweiligen Individualität. Sie bleiben also jenseits der Grenze zum Menschsein. Hingegen beobachtet Helga Schneider andauernd sich selbst, registriert wie eine Buchhalterin des schlechten Gewissens und der guten Absicht jede eigene Gefühlsbewegung und zwingt die Leser damit, ihr die Absolution zu erteilen. Ihr Leid steht im Mittelpunkt, und der Drang, es wegzumachen, geht auf Kosten derer, die unter ihrer Mutter - »Mutti« will sie andauernd genannt werden - gelitten haben. Ich würde das nicht nur der Autorin anlasten. Ihre Trauer und Verzweiflung, so plump sie dargestellt werden, sind immerhin zu respektieren. Widerlich ist schon eher das Motiv der Verlage (das Buch ist mittlerweile in mehreren Sprachen erschienen), dieses billige Konvolut zum Druck zu befördern. Der Piper Verlag, dessen Programmleiter zügig darangehen, den guten Ruf von früher zu zerstören, kalkuliert mit der Sensationsgier von Leuten, die sich schon an den Talkshows mit Monika Göth - der Tochter des Mörders von Plaszow - delektiert haben. So wird aus Therapiemüll Kapital geschlagen. Helga Schneider: Laß mich gehen. Roman. Aus dem Italienischen von Claudia Schmitt. Piper. 175 Seiten, gebunden, 15,90 EUR.
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