Indien: Eine Chance für Lichma und Habib

Plastische Chirurgen aus Deutschland operierten in der Wüstenstadt Bikaner

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: 4 Min.
Deutsche und Inder arbeiteten im Hospital von Bikaner Hand in Hand und vollbrachten, was ihre Patienten und deren Familienangehörige letztlich doch als »Wunder« empfinden.
Obwohl die sechsjährige Lichma die Operation ihrer verbrannten Beine schon hinter sich hat, blickt sie bei der Visite noch immer ängstlich auf die Ärzte. Ihr Vater, ein Bauer aus Sirsa, beruhigt sie und erzählt dann: »Wir hatten in der Zeitung gelesen, dass eine Gruppe von Chirurgen aus Deutschland im Magilal Nirban Hospital von Bikaner kostenlos operieren wird. Das war unsere Chance. So brachten wir Lichma hierher. Sie konnte nicht laufen, ihre Beine waren ganz steif geworden, durch die Vernarbungen. Nach der Operation kann sie die Beine schon etwas bewegen. Die Ärzte meinen, dass sie wieder richtig laufen können wird. Es ist wie ein Geschenk des Himmels. Operation, Krankenhausaufenthalt, Medikamente, Verbände und sogar das Essen, alles ist kostenlos.«
Lichma mit ihrem VaterIm nächsten Zimmer betrachtet sich der zehnjährige Habib ungläubig im Spiegel. Soll das sein Gesicht sein? Wo ist die schreckliche Hasenscharte geblieben, die ihn so entstellt hatte? Seine Mutter kommentiert die Szene glücklich: »Nun werden die Kinder in der Schule Habib nicht mehr hänseln. Mein Sohn wird ein perfekt normaler Mann werden.« Dr. Jürgen Toennissen aus Duisburg blickt zufrieden auf das Resultat seiner Operation. Habibs Familie stammt aus einem rajasthanischen Wüstendorf, 200 Kilometer von Bikaner entfernt. Sie weiß, dass die Deutschen zum zweiten Mal nach Rajasthan kamen und den Ruf besaßen, »Wunder« vollbringen zu können. Habib war wegen der Missbildung in seinem Gesicht in der Schule verspottet worden. Man rief ihn »Khanda«, was sich mit »der Kaputte« übersetzen läßt. Die ganze Sippe schämte sich seiner, denn ihr Ansehen in der Dorfgemeinschaft litt wegen der Hasenscharte des Jungen. Eine teure Operation ihres Sohnes in einer Privatklinik hätte sich die Familie nie leisten können. Dr. Tanveer Malavat, Chefchirurg am Hospital von Bikaner, hatte die deutschen Kollegen von der gemeinnützigen Vereinigung Interplast Germany eingeladen, nach dem Erfolg vom Vorjahr wieder zu operieren und erstmals einen Workshop zu Plastischer Chirurgie durchzuführen. Etwa 60 indische Ärzte nahmen daran teil. Sie erlebten per Videokamera Operationen von Lippen- und Gaumenspalten, von Kontrakturen nach schweren Verbrennungen, Deformationen von Ohren, Nasen, Händen und Füßen sowie Beispiele kosmetischer Operationen. Die Deutschen kommentierten ihre Handgriffe, und das Auditorium konnte über Mikrofon Fragen stellen. »Eine Form von Hilfe zur Selbsthilfe« nennt der deutsche Teamleiter diesen Workshop. Für die Patienten freilich war wichtiger, möglichst schnell von ihrem Makel befreit zu werden. Dr. Malavat erläutert, was für ein Handikap eine Lippenspalte oder Verbrennungsnarben im Gesicht für den Patienten darstellen: »Sie behindern nicht nur Sprechen und Essen. Sie sind ein soziales Stigma. Die Betroffenen sehen sich ausgestoßen, mitunter in der eigenen Sippe isoliert, leiden an einem Minderwertigkeitskomplex und sind depressiv. Oft beseitigt das alles eine Operation. Die Menschen erhalten ein Gesicht, mit dem sie in der Öffentlichkeit nicht mehr auffallen, das ihnen soziale Akzeptanz verschafft und ihren Familien den Weg zurück in die Gemeinschaft ebnet.« Wir treffen Dr. Jürgen Toennissen, 61 Jahre alt, Chefarzt der Abteilung für Plastische und Handchirurgie am St. Barbara Hospital in Duisburg und in Bikaner Leiter der Interplast-Gruppe, zunächst nicht im Operationssaal, sondern bei der Visite. Habib hat er schon gesehen. »Ein paar Tage noch«, versichert er ihm, »dann kannst du richtig lachen und schmerzfrei essen.« Und auch Habibs Vater beruhigt er. Der Sohn werde bestimmt so sprechen lernen, dass man ihn mühelos versteht. Jetzt wendet er sich Ram Prakash und Lichma zu. »Das kriegen wir hin«, macht er Vater und Tochter Mut. Mamata, vier Jahre alt, kam sogar aus dem benachbarten Unionsstaat Punjab, um ihre beiderseitige Lippenspalte beseitigen zu lassen. Bei Surendra, 40 Jahre alt, wurden Kontrakturen operiert, die sich durch Verbrennungen nach der Explosion eines Ofens gebildet hatten. Wie hoch die Erwartungen der Patienten sind, weiß Dr. Toennissen sehr wohl. Deshalb muss er eindringlich auf alle Risiken verweisen und erklären, dass auch sein Team keine Wunder vollbringen kann. Der Arzt aus Duisburg ist zum elften Mal im Einsatz für Interplast und kann sich auf seine Mitarbeiter Dr. Jürgen Weiler, Dr. Dorte Uhlenbruch, den Arzt Klaus Hankewitsch, die Arzthelferin Elisabeth Veverka, OP-Schwester Marianne Zabel und Krankenpfleger Frank Bruckhaus verlassen. Aber auch wenn sie zehn bis zwölf Stunden am Tag operieren, können sie den Strom der Patienten, die überwiegend aus den armen Bevölkerungsschichten stammen, doch nicht bewältigen. Manche müssen auf ein nächstes Mal in Bikaner vertröstet werden. Die Chirurgen kommen zu solchen Einsätzen in ihrem Urlaub. Sie arbeiten ohne Bezahlung. Den Flug, die medizinischen Geräte und das Operationsmaterial, das sie mitbringen, bezahlt die Vereinigung Interplast Germany aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Die Kosten am Ort trägt das Hospital. Toennissen lobt die Bedingungen in Bikaner: »Die besten, die ich bisher bei meinen Einsätzen im Ausland erlebt habe. Die Vorbereitung durch Dr. Malavat ist beispielhaft. Die komplette Krankengeschichte mit Fotos jedes Patienten liegt vor. Das macht es uns leichter, zu entscheiden und auszuwählen. Wesentlich für den Erfolg ist auch die gewissenhafte Arbeit des indischen Personals, das die Operierten betreut. Dank seines exzellenten Engagements gibt es kaum Infektionen oder andere Komplikationen.«

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