Manchmal bin ich unheimlich traurig, weil es passiert ist, und ich denke, dass ich selbst Schuld daran bin. Er behauptet, er war es nicht. Aber ich weiß doch, dass er das mit mir gemacht hat. Es ist mir peinlich, ich fühle mich allein und habe Angst.« Ein Ausschnitt aus einem Therapieprotokoll.
Moritz war neun Jahre alt, als er an einem Wochenende bei einem Verwandten übernachtete und vergewaltigt wurde. »Dem würde ich eine aufs Maul hauen. Richtige Kerle können sich doch wehren«, so lauten gemäß einer Umfrage die typischen Antworten von Jungen auf die Frage, was sie tun würden, wenn sie von sexuellem Missbrauch betroffen wären. Und niemand will glauben, dass sexueller Missbrauch in der eigenen Familie passiert. Doch jährlich werden etwa 13 bis 15000 sexuelle Missbrauchsfälle angezeigt. Die Zahl steigt stetig, und die aufgedeckten Fälle sind nur die Spitze eines Eisberges. Die Jungen werden dabei wie selbstverständlich als Opfer übersehen. Für sie sei es besonders schwer, zuzulassen, dass sie Opfer waren, meint Fred Meyerhoff, Therapeut bei KIZ, Kind im Zentrum, einer Berliner Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Kinder und ihre Familien. Die Jungen würden stigmatisiert und als schwul abgestempelt. Wer Opfer wird, mit dem stimmt was nicht. Doch nach Schätzungen habe fast jeder zehnte Junge Missbrauchserfahrungen während seiner Kindheit und Jugend.
Das Ausmaß des Missbrauchs war auch für Moritz Mutter schwer auszuhalten. Für sie begann ein Leidensweg. »Bei meinem Kind ging es los mit Angstzuständen und Aggressivität. Moritz ging nicht mehr ins Badezimmer, nicht mehr auf die Toilette. Er war zwei Mal im Krankenhaus. Sie mussten ihm einen Einlauf machen. Er hat nur geschrieen.« Keinen Schritt mehr konnte die Mutter allein aus dem Haus gehen, konnte ihn nicht allein lassen, schlief selbst kaum noch, »weil alles in Albträume gepackt war«. Moritz schlug mit dem Kopf auf den Tisch, wollte sich umbringen. Das Schlimmste für die Mutter war, dass sie sich die Ursachen nicht erklären konnte. Moritz schwieg über ein Jahr. Wie die meisten Opfer ging er davon aus, dass ihm sowieso niemand glauben würde. Auch wollte er seine Familie nicht belasten. Andrea K. war hilflos. Sie begriff schnell, dass sie allein mit der plötzlichen Wandlung des Sohnes nicht zurechtkommen würde und lief von einer Beratungsstelle zur nächsten, bis sie endlich bei KIZ Gehör fand. Die Aufdeckung des Geschehens »war wie ein Totschlag«. Seiner Mutter machte Moritz nur vorsichtige Andeutungen. Wirklich anvertrauen konnte er sich erst bei KIZ. War die Form der Therapie bei der Mutter das Gespräch, war sie bei Moritz das Spiel - schon, um ihn nicht auf den Missbrauch zu reduzieren, sondern vorsichtig Wege des Vertrauens zu ebnen.
Ein helles Kinderzimmer mit Puppenhaus, Brettspielen, Büchern und Handfiguren. Auffallend viele Monster, Teufel, Dinosaurier. Daneben ein Sandkasten mit einer Vielzahl von Tieren darin. Er wählt den schwarzen Panther aus, um sich selbst darzustellen. Ganz dicht hinter ihm der Täter als Dinosaurier, die Mutter als Nilpferd wird etwas weiter weggestellt. In der symbolhaften Auseinandersetzung mit dem Geschehen und seiner jetzigen Situation kommt Moritz aus seiner Isolation, verliert die Sprachlosigkeit. Das erste Mal erzählte er seine Geschichte und schilderte den Ablauf vom qualvollen Festhalten an den Füßen bis hin zu dem unfassbaren Verbrechen. »Ich denke oft, vielleicht habe ich mich nicht ausreichend gewehrt. Ich fühle mich gedemütigt. Vielleicht werde ich später gar kein richtiger Mann mehr?«
Solche Zweifel überkommen nicht nur Moritz. Die Opfer schämen sich, denn »mir als Junge darf so etwas nicht passieren«. Zur Scham kommt das Schuldgefühl, «denn ich hätte doch damals einfach weggehen können.« »Nein!«, erklärt Fred Meyerhoff seinem Klienten: »Du warst neun - der Mann war erwachsen. Er hat dich bedroht. Du konntest nicht weggehen.« Auch Andrea K. machte sich lange Zeit Vorwürfe, weil sie Moritz auf seinen Wunsch hin bei Verwandten übernachten ließ. »Man gibt sein Kind in Obhut und denkt, es wird schon alles in Ordnung sein. Mein Kind war offen, unbefangen Menschen gegenüber.«
Wie in Moritz Fall finden die sexuellen Handlungen meist im sozialen Nahraum statt, innerhalb der Familie, bei Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Meist ist er ein Bekannter des Kindes, der seine Machtstellung brutal ausnutzt. Fast immer sind die Übergriffe strategisch geplant und steigern sich mit der Zeit. Die Täter, so erläutert Meyerhoff, gebrauchen keine Gewalt, aber auf subtile Weise nutzen sie die emotionale Bedürftigkeit der Kinder aus. Sie kriegen die Jungen mit Lockungen: Bei mir kannst du rauchen, bei mir darfst du Bier trinken. Du bist doch ein richtiger Junge. Du kannst dir auch mal einen Porno angucken, bist doch schon zehn. »Das finden die Jungs natürlich ganz spannend.« Die sexuellen Handlungen sind oft langsam, schrittweise aufgebaut, so dass die Jungen in einen Strudel gezogen werden und an keiner Stelle sagen können: Nein, ich will das nicht mehr. Alkohol spielt bei vielen Missbrauchern eine große Rolle beim Anbahnen der Tat. Es wird dann bewusst getrunken, um die letzte Hemmschwelle zu überwinden. Fred Meyerhoff hört oft, wie schwer es den Jungen fällt, aus dem geheimnisumwobenen Teufelskreis von selbst auszusteigen. Zusätzliche Geschenke oder Geldbeträge erhöhen zudem die Abhängigkeit des Opfers vom Täter. Es wird zum Schweigen erpresst. »Da hat ein Junge manchmal mehr Angst davor, der Täter könne den Eltern verraten, dass er trinkt und raucht, als davor, den Eltern vom Missbrauch zu erzählen.
Meyerhoff erlebt häufig, dass die Kinder nach Missbräuchen ambivalent zum Täter stehen, den sie doch schätzen und mögen. Dann, wenn etwas passiert, das sie mit Scham und Ekel erfüllt, falle es ihnen schwer, ein klares Bild vom Täter und von sich selbst zu bekommen. Sich mit dem Erlebten kreativ auseinander zu setzen, helfe den Jungen, ihre Gefühle, Sehnsüchte, Ohnmacht und Trauer auszudrücken und sich aus der Opferrolle zu befreien. »Beispielsweise hatte ein Junge den "lieben" Vater mal als Spatz im Sessel geknetet und auf der anderen Seite den "bösen" Vater als Dinosaurier auf die Sessellehne gesetzt. Dann nahm er beide Knettiere und gestaltete eine neue Figur daraus. Es entstand für den Jungen das Gefühl: Mein Vater ist beides, er definierte seine Beziehung zum Vater ganz neu.« Auf dem Bücherregal des Spielzimmers Boxhandschuhe. In der Mitte des Raumes lässt sich ein Sandsack herunterziehen. Die Verletzung zu verarbeiten heißt nämlich auch, Wut entwickeln und zulassen, die eigenen Grenzen wahren, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben.
Die häufigsten Folgen sexuellen Missbrauchs sind Würgegefühle, Angst vor Männern, Einkoten, Einnässen, innere Zerrissenheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schulprobleme, der Verlust des eigenen Werts, Identifikationsprobleme. Am schlimmsten aber ist es für ein Kind, wenn das Geschehen angezweifelt oder vertuscht wird, um die Familie nach außen nicht zu erschüttern. Dass Moritz und seine Mutter sich nach langem Zögern entschlossen haben, den Täter anzuzeigen, war für den Jungen auch ein Zeichen, dass die Mutter zu ihm steht. Trotzdem, die Schäden nach sexuellem Missbrauch bleiben oft ein Leben lang.
Das Trauma zu verarbeiten ist leichter, wenn die Kinder und Jugendlichen wissen, dass auch der Täter an sich arbeitet. Die meisten kommen zu KIZ über Auflagen durch Haftanstalten, von Gerichten und Anwälten. Sigrid Richter-Unger, die Leiterin, therapiert Täter. »Einige denken, was soll ich hier? Es war doch alles nicht so schlimm. Manche sind voller Selbstmitleid, meinen, da so hineingestolpert zu sein. Andere sind aufgewühlt und hilflos, weil die Tat aufgedeckt wurde. Fast alle sehen sich nicht als den autoritären Erwachsenen, sondern als einen, der mit dem Kind spielt, ihm etwas bieten will, sich kümmert und dabei ein bisschen kuschelt. Viele unterscheiden nicht zwischen Zuwendung und Sexualität. Die Grenzüberschreitung ist fließend. Und das verwirrt auch das Kind in seiner Wahrnehmung nach körperlicher Nähe.«
Die Therapeutin versucht in den Gesprächen, in dem Täter ein Mitfühlen für das Erleben des Kindes zu wecken. Dieses fehle ihm häufig total. Ziel der Therapie ist es, dass der Täter die volle und alleinige Verantwortung für den Missbrauch übernimmt, indem er für sich formuliert: Ich habe aktiv gehandelt. Es war allein meine Entscheidung. Kein anderer ist dafür verantwortlich, nicht, dass meine Ehe nicht gestimmt hat, nicht, dass das Kind sich an mich geschmiegt hat. Das alles ging von mir aus. Und ich hätte anders reagieren können. Ein weiteres Ziel ist die Erkenntnis, wann befinde ich mich in Situationen, wo mir wieder die Gedanken kommen, ein Kind zu missbrauchen. Das setzt voraus, dass der Täter eine eigene Therapiemotivation entwickelt und sich ein Leben lang selbst unter Kontrolle hat. Wieder gutmachen lassen sich die Verbrechen ohnehin nicht.
Auch die Angehörigen müssen mit dem Missbrauch leben lernen. »Solange dem Jungen nicht geholfen wird, kann es uns nicht besser gehen«, dachte Andrea K., als sie sich an KIZ wandte. Auf Moritz wieder unbelastet zugehen zu können, wird noch ein langer Weg sein, glaubt sie. Moritz hat sich nach einjähriger Therapie etwas stabilisiert und ist jetzt in der Lage, sich seine einstige Hilflosigkeit einzugestehen. Und doch gibt es kein Vergessen. »Ich habe mein Kind verloren. Moritz ist total anders geworden. Die Familie, die wir waren, gibt es nicht mehr.« Das Gerichtsverfahren im Fall Moritz ist inzwischen eingestellt worden. Der Täter wurde freigesprochen.
Sexueller Missbrauch an Jungen - ein Phänomen, dem noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Weit verbreitet ist die Überzeugung, dass Jungen und Männer nur Täter, aber nicht Opfer sexueller Gewalt werden. Agnes Reuter spricht von einem wellenartigen Verlauf der Aufdeckungsprozesse, welche die Gesellschaft in der Lage ist, sich anzuschauen: »Zuerst wurde die sexuelle Gewalt an Frauen angesprochen, später der sexuelle Missbrauch an Mädchen oder an behinderten Menschen. Sexuelle Gewalt an Jungen ist bis heute etwas, das man nicht sehen will. Dass Jungen auch verletzt werden können, entspricht nicht der Wahrnehmung der männlichen Geschlechterrolle.«
Agnes Reuter ist Fachleiterin von MALE, einer Berliner sozialtherapeutischen Wohngruppe für Jungen zur Bearbeitung ihrer sexuellen Missbrauchserfahrungen. Der Name steht für »Missbrauch ans Licht«. Die Jungen im Alter von 12 bis 18 Jahren wurden Opfer verschiedener Formen sexueller Gewalt: inner- oder außerfamiliär oder aus der Pädophilen- oder Stricherszene. Anfangs ein Projekt zum Schutz der männlichen Opfer. Doch die betroffene Zielgruppe blieb aus. Offenbar sträuben sich männliche Opfer eher als weibliche, ihre Erfahrungen und Gefühle von allein jemandem mitzuteilen. Weder die missbrauchten Jungen noch deren Eltern wandten sich an MALE. Es gab jedoch Anfragen von Kriseneinrichtungen, Jugendämtern oder der Jugendgerichtshilfe, die Jungen mit sexuell übergriffigem Verhalten einweisen ließen. Jungen, die zu Hause Geschwister missbraucht haben - die jüngere Kinder aus der Nachbarschaft gegriffen, in eine dunkle Ecke gezogen und anale Penetration durchgeführt haben, die deutlich schwächere und unterlegene Schulkinder in die Toilette schleppten, vor ihnen die Hose herunterzogen und sich selbst befriedigten.
MALE spezialisiert sich auf die Arbeit mit jugendlichen Tätern. Täter - ein Wort, das die Kinder- und Familientherapeutin Renate Pies nicht gern gebraucht. »Ich spreche von missbrauchenden Menschen. Von den Jungen ist es noch keine bewusst geplante Tat. Viele Verstrickungen, Irrungen und Wirrungen haben erst zu Grenzverletzungen geführt.« Bei ihrer Ankunft in der Einrichtung sprechen die Jugendlichen öffentlich über die Gründe ihrer Einweisung. Immer wieder zeigt sich, dass oft eigene Opfererfahrung vorliegt. Agnes Reuter erlebt die Jungen, wenn sie ankommen, massiv verhaltensauffällig und traumatisiert. Sie seien grenzenlos, laut, lärmend, aggressiv, provokant. An Regeln könnten sie sich nur schwer halten. Manche haben Essstörungen, verschlingen die Nahrung. »Während missbrauchte Mädchen eher depressiv nach innen gehen, sich selbst verletzen, sind die Jungen ständig am Rotieren und Agieren. Sie brauchen sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Man kann sie nicht eine Sekunde allein lassen. Manche können das, was sie getan haben, wohl formulieren, jedoch haben sie ähnlich wie die erwachsenen Männer keinen emotionalen Zugang zu ihren Opfern.« Ein Teil habe bereits langjährige Therapie- und Psychiatrieerfahrungen mit vielen Abbrüchen hinter sich.
Der Kinder- und Familientherapeutin Renate Pies geht es darum, »dass die misshandelnden Jugendlichen genau wie erwachsene Täter ein Verständnis dafür bekommen, was sie getan haben.« Die Täter unterliegen einer lebenslangen Kontrolle und Selbststeuerung. Aus der spezialisierten Therapie mit den Jugendlichen wuchs allerdings die Erkenntnis, dass diese im Gegensatz zu erwachsenen Misshandlern noch keine »fertigen« Misshandlungszyklen ausgebildet haben. »Ich denke, sie stehen an der Schwelle, sich zu entscheiden, welchen Weg sie einschlagen werden«, glaubt Agnes Reuter.
Kontakt: KIZ. Kind im Zentrum - sozialtherapeutische Hilfen für sexuell missbrauchte Kinder und ihre Familien. Neue Schönhauser Straße 16, 10178 Berlin. Telefon: 2828077
MALE. Sozialtherapeutische Wohngruppe für Jungen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen. Königsberger Str. 28, 12207 Berlin. Telefon: 76884166
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