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Wie steht es mit Feindbildern?

  • Lesedauer: 4 Min.

Mehr als die Hälfte der befragten Schüler (51,2 Prozent) sind nicht oder nur mit geringen Einschränkungen der Meinung, Feinde zu haben. Von denen jedoch, die Feindbilder benannten, definierten 9,9 Prozent Ausländer als ihre Feinde, 32,8 Prozent Rechtsradikale und 3,9 Prozent Linke.

Laut Ihrer Studie' befürworten knapp 30 Prozent der Schüler als einen Lösungsweg zur Verringerung von Gewalt die Reduzierung der Einwanderung.

Bereits die Schüler sind hier geistig irritiert, vor allem durch jene Hysterie, die . im Zusammenhang mit der Diskussion um das Asylantenthema entfacht wurde. Das wichtigere Thema wurde dabei erdrückt: Die Deutschen haben es bitter nötig, über ihre Beziehungen zu fremden Menschen und Kulturen zu reden. Es ist ja nicht das

Problem des Ausländers - der Brite und Franzose sind ja auch Ausländer -, sondern es geht um den Fremden, der fremd in seinen Sitten, in seiner Kleidung, seinem Äu-ßeren erscheint. Und da haben wir feststellen müssen, daß die Schüler schon wie viele Erwachsene dazu neigen, mit dem Problem fertig zu werden, indem man es aussiedelt, in dem, man den Fremden aussiedelt - obwohl die überwiegende Mehrheit der Schüler Ausländer nicht als ihre Feinde betrachtet, nichts gegen sie hat. Und so muß es auch bedenklich stimmen, daß wenn auch ca. 80 Prozent der Schüler der Losung „keine Gewalt“ zustimmen - viele sich dennoch mit den Slogans „Nazis raus“ (61,6 Prozent), „Türken raus“ (36,2 Prozent), „Polen raus“ (35,1 Prozent), „Linke raus“ (32,1 Prozent), „Ausländer raus“ (29,2 Prozent) und „Juden raus“ (21,3 Prozent) identifizieren können.

„Viele Ossi-Deutsche regen sich über die Ausländer auf, die als einzigen Ausweg Deutschland sehen. Zur Wende sind sie aber doch auch in Massen in die ,BRD' rüber. Als Ausrede behaupten sie immer: ,Na, das ist ja was anderes. Es ist ja unser Land - nur geteilt'. Aber das ist wirklich eine Ausrede.“

Wie kommt es, daß nicht gerade wenige Schüler dafür plädieren, unbequeme Minderheiten, die man zwar nicht als feindlich erachtet, aus dem Land zu treiben?

Die Schüler übernehmen aus der ' Welt der Erwachsenen intolerante Denkmuster, ohne sich bewußt zu sein, daß diese ihrem Wunsche nach einer gewaltfreien Welt widersprechen. Es entsteht die Gefahr, daß gewaltstiftende Kräfte sich der Jugendlichen bemächtigen können. Aus dem gleichen Grunde könnte es auch zu einer zunehmenden Polarisierung in der Jugend kommen. Wie sieht es mit der persönlichen Erfahrung Ostberliner Schüler mit Gewalt aus?

Da gibt es durchaus einige, erschütternde. Besonders berührt hat mich der Aufsatz einer Schülerin, die sich als Betroffene sehr tiefsinnige Gedanken zum Thema gemacht hat. „Gewalt ist eine Sache, die die meisten Menschen nur wahrnehmen, sobald sie visuell sichtbar und mit eigenen Händen faßbar ist“, schreibt sie und verweist darauf, daß die unsichtbare, psychische Gewalt viel schmerzlicher sein kann: „So hab ich mich von Kindheit an gefragt, was ist denn dieses andere etwas, durch das ich mich verletzt und verwundet fühle, ohne daß ich äußerlich sichtbare Wunden davontrage?... Was war das, wenn ich als kleines Mädchen an der Hand meiner Mutter durch die Straßen lief und sie als Nigger-Hure und ich als kleines Nigger-Biest tituliert wurden?“ Sie beschreibt Erfahrungen, die sie in der DDR machte, und spricht über neue, schmerzliche Erlebnisse im neuen Deutschland. Freunde von ihr wurden ob ihrer Hautfarbe schikaniert, krankenhausreif geprügelt:

„Gewalt ist, wenn der siebenmonate alte Sohn Paolos bereits psychisch gestört ist,... weil einige deutsche Jugendliche der Meinung waren, Paolo müsse erschlagen werden, und seiner im achten Monate hochschwangeren Frau müsse man das Kind aus dem Leibe treten.“

Sie habe gelernt, zu hassen, gesteht sie. Und sie möchte nicht, daß ihre Kinder in Deutschland aufwachsen, wo sie doch nur als „minderwertige Deutsche oder Kanaken“ gelten. Es ist bedrückend, welche Not und Verzweiflung aus diesen Zeilen einer^jungen, heranwachsenden Frau sprechen. Aber trotz allem Erlebten bekennt auch sie sich zur Gewaltfreiheit

Interviev: KARLEN VESPER Die kursiv gesetzten Zitate stammen aus insgesamt 256 Schüleraufsätzen, die u. a. für die Studie ausgewertet wurden

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