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  • Wissen
  • Prof. Dr. SIEGFRIED GRUNDMANN über eine Untersuchung zum Thema „Schuljugend und Gewalt“ / Die Mehrheit Ostberliner Teenager meint:

Miteinander reden und nicht aufeinander einschlagen

selbst bei Menschen, die Gewalt ethisch und moralisch ablehnen.

  • Lesedauer: 5 Min.

Gewalt von und unter Jugendlichen - ein besorgniserregendes, alarmierendes „Phänomen“. Was treibt Jugendliche, sich gegenseitig und ihre Mitmenschen zu terrorisieren, zu verletzen oder gar totzuschlagen bzw. ihr eigenes junges Leben mit tödlichen „Spielen“ zu riskieren? Wo sind ihre Motive zu suchen, wo die Wurzeln fUr Gewaltbereitschaft? Oder stimmt gar das allgemein verbreitete Bild von der gewalttätigen Jugend von heute überhaupt nicht? Sind es nur Außenseiter, die „randalieren“? ND sprach mit Prof. Dr. SIEGFRIED GRUNDMANN, Vorsitzender des Vereins zum Studium der Sozialstruktur Und des Sozialraumes der Region Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS). Zusammen mit seinen Kolleginnen Dr. Ines Schmidt und Dr. sc. Irene Müller-Hartmann führte er eine Untersuchung zum Thema „Schuljugend und Gewalt“ im Auftrage der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats durch. In drei ausgewählten Ostberliner Stadtbezirken, dem traditionellen Arbeiterviertel Prenzlauer Berg, im Stadtbezirk Mitte, dem Herzen Berlins, sowie in Hohenschönhausen, einem Neubaugebiet - befragten sie Schüler der 6. bis 12. Klassen. Eine Studie, deren Ergebnisse durchaus auch aussagekräftig sind hinsichtlich Befindlichkeiten und Ansichten ostdeutscher Jugendlicher überhaupt. Sie verblüfft ob ihres Fazits

Auf den ersten Blick scheint Ihre Untersuchung jenen rechtzugeben, die da meinen, keinerlei Anhaltspunkte für eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft der Jugendlichen ausmachen zu können?

Wir waren selbst überrascht und erfreut über die Botschaft, die unsere Untersuchung vermittelt: Humanistische Werte prägen das Denken und Verhalten der Mehrheit der Schüler Ostberlins. Sie wünschen sich kulturvolle Formen des Zusammenlebens, gewaltfreie Lösung von Konflikten, sinnerfüllte Arbeit, sinnerfülltes Leben.

„Menschheit, scheiß auf Gewalt, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Gewalt ist keine Lösung von Problemen.“

70,8 Prozent der befragten Schüler haben sich ohne Einschränkung gegen Gewalt ausgesprochen. 75,8 Prozent nannten „Wissen“, 59,2 „Fleiß“ und 58,9 Prozent „Liebe und Freundschaft“ als die Voraussetzungen, um im Leben bestehen zu können. Auch „Mitgefühl und Hilfsbereitschaft Schwächeren gegenüber“ gilt (44,6 Prozent) als Selbstverständlichkeit. Dahingegen bekannten sich nur 5,1 Prozent zu „Egoismus“ und 6,6 Prozent zu „Rücksichtslosigkeit''. Eine

gewiß geringe Zahl - und doch groß genug, um besorgt zu sein.

„Ich bin dafür, zu friedlichen Demonstrationen zu gehen oder in Gesprächsrunden Meinungen auszutauschen... Miteinander reden - miteinander arbeiten und nicht einander Gewalt zufügen.“

Also kein Grund zur Entwarnung?

Keinesfalls. Wir haben die Schüler auch gefragt, wie sie ihr Leben nach dem 3. Oktober 1990 einschätzen. Nach Auffassung der überwiegenden Mehrheit ist es nicht besser geworden, nur 4,2 Prozent glauben, es sei für die Jugend alles in allem besser. Symptomatisch für die Erlebnis- und Gefühlswelt vieler ist der Satz in einem Schüleraufsatz: „Ich verstehe die Welt sowieso nicht mehr, es ist nichts mehr so, wie es war.“ Ostdeutsche Jugendliche fürchten sich gegenwärtig vor allem vor der Gewalt allenorts (60,5 Prozent), vor der Arbeitslosigkeit der Eltern und Geschwister (54,3 Prozent) sowie der Gefahr, nach der Schule keine Lehrstelle oder keinen Studienplatz zu finden (44 Prozent).

Angst, Enttäuschung, Verzweiflung können sehr wohl Auslösemomente für Gewalttätigkeiten sein,

Sicher, und darum besteht auch kein Grund,, sich in blindem Optimismus zu wiegen. Die Jugendlichen wünschen sich eine von Toleranz geprägte, gewaltfreie Welt, doch die sie umgebende Welt ist gezeichnet von Gewalt, unterschiedlichster Art. So ist es denn verständlich, daß so manche junge Persönlichkeit innerlich zerrissen ist. So schreibt ein Schüler, daß er Gewalt absolut ablehne, es ihm auch nichts ausmache, wenn er deshalb als Feigling beschimpft werde. Zugleich merkt er aber an, daß er ob erlebter Gewalt oder Ungerechtigkeit, „die von diesem Staate ausgeht“, gewalttätig werden könnte: „z.B. hatte ich gewaltige Lust, als ich hörte, das DT 64 abgeschafft wird,... mir eine Pistole zu kaufen und jeden Politiker und Monopolisten über den Haufen zu schießen.“ Gewalt wird also in bestimmten Fällen als legitim oder wenigstens verständlich akzeptiert.

Worin sehen Jugendliche die Ursache für um sich greifende Gewalt?

Neben den „Konflikten mit Ausländern“ werden als Ursachen auch „Konflikte zwischen politisch Andersdenkenden“ genannt, sowie allgemeine Unsicherheit, Zukunftsängste und auch die Arbeitslosigkeit vieler Jugendlicher. „Wie sollen diese Jugendlichen beweisen, daß sie auch noch da sind?... Sie lassen sich somit an anderen Menschen aus, die nun gerade mal ,häßlich' sind, die ,dick' sind und andere kleine Fehler haben.“

Aber auch „Langeweile“ wird häufig als Grund genannt. Man mag sich zwar darüber streiten, ob es richtig war, daß in DDR-Zeiten die Schulen alles auf sich zogen, ganztägig Schüler betreuten, sie in Arbeitskreisen, Zirkeln und Sportgemeinschaften beschäftigten - jetzt, da vieles weggebrochen ist bzw. kaputtgemacht wurde, ohne daß dafür Adäquates

entstand bzw. vorhandene Möglichkeiten aus finanziellen Gründen nicht wahrgenommen werden können, vermissen die Jugendlichen etwas.

„Die ganzen Jugendclubs werden geschlossen, und wir wissen nicht was wir machen sollen. Also geht man auf die Straße und haut irgend welche Menschen zusammen.“

Die meisten der von uns befragten Schüler sind sich bewußt, daß Gewalt ein gesellschaftliches „Phänomen“ ist, erkennen deren soziale Wurzeln.

„Soziale Not ist ein guter Nährboden für Kriminalität. Ich bin der Meinung, daß der Jugend Perspektiven und Zukunftschancen eingeräumt werden müssen. Dazu gehört vor allem, daß das Angebot an Lehr- und Studienplätzen in den neuen Bundesländern erhöht wird. Und daß das ganze Freizeitangebot... ausgebaut wird, das auch für einen kleinen Geldbeutel (oder kostenlos) erschwinglich ist.“

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