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  • Der langjährige „Medienzar“ der DDR - Zum Tode von Joachim Herrmann

Der trittsichere rechte Fuß Erich Honeckers

  • Lesedauer: 4 Min.

Joachim Herrmann ist tot. Eine Nachricht, die kaum einen Ex-DDR-Journalisten völlig unberührt lassen wird. Aber es wird auch sehr viele, nicht nur jugendliche Ostdeutsche - von Wessis ganz zu schweigen - geben, die mit diesem Namen überhaupt nichts anfangen können. Deshalb eine Episode: 13. Januar 1985. Die Demonstration in Berlin-Friedrichsfelde zu Ehren von Liebknecht und Luxemburg geht zu Ende, die Politbüromitglieder begeben sich von der beheizten Tribüne zu ihren Autos. Der für die Berichterstattung im ND zuständige Abteilungsleiter paßt vereinbarungsgemäß seinen Chefredakteur Schabowski ab, um ihm den Überschriftenvorschlag für Seite 1 zu zeigen: „200 000 Berliner an den Gräbern von Karl und Rosa“. Schabowski nimmt den Zettel, nickt und sagt: Ich werde ihn mal „Achim“ zeigen. „Achim“ greift das Papier, eilt zu Honeckers Auto, reicht es hinein und bringt es wenig später mit gewichtiger Miene wieder zu Schabowski. Der gibt es grinsend seinem Abteilungsleiter. Am nächsten Tag steht in riesigen Lettern auf Seite 1 des ND: „Über 200 000 Berliner...“

Das war „Achim“, Joachim Herrmann, zunächst Bote in der „Berliner Zeitung“, später Chefredakteur von „Junge Welt“, „Berliner Zeitung“ und „Neues Deutschland“, zwischendurch noch Staatssekretär. Von 1978 bis 1989 Sekretär für Agitation und Propaganda im ZK der SED und damit samt seiner Agitationskommission Vormund für im Grunde alle Medien in der DDR - offiziell, muß man hinzufügen, denn tatsächlich war er nur der trittsichere rechte Fuß des Generalsekretärs. Herrmann selbst hat seine Rolle in einer Anhörung vor. dem Volkskammerausschuß in der Wende offenbart. „Es gab ein absolutes Gesetz der Anleitung der Massenmedien durch den Generalsekretär“, führte er aus. „Der Generalsekretär hatte einen großen Wert auf die Medien und ihre Anleitung gelegt und auf die unbedingte Einhaltung der Parteidisziplin und... seiner eigenen Weisungen, die bis ins Detail erfolgte, insbesondere was das .Neue Deutschland' betraf.“ Honecker sei der einzige gewesen, der ihm, dem Politbüromitglied Herrmann, Weisungen erteilen konnte. „Und er hat es auch getan“, fügte er lakonisch

hinzu. Siehe anfangs erwähntes Beispiel. ,

Nehmen wir zwei weitere, die DDR-Bürger weitaus mehr bewegten, als Schlagzeilen, die eh keiner mehr las, geschweige denn ernst nahm. Zum Beispiel die Geschichte mit dem „Sputnik“. Die sowjetische Zeitschrift hatte einige Artikel gebracht, die im SED-Politbüro unangenehm auffielen. Eines Tages erschien in den DDR-Zeitungen eine ADN-Meldung, daß der Postminister den „Sputnik“ von der Zeitungsvertriebsliste gestrichen habe. Wer verantwortet diese Lüge?, wurde Herrmann später in besagtem Volkskammer-Ausschuß gefragt. Darauf er: „Das sind dann zwei: der, der sie diktiert hat, und der - Letzterer bin ich - der sie an ADN weitergeleitet hat.“

Ebenso „schlicht“ die Entstehung eines zynischen Satzes, der in einem „ND-Kommentar“ im Sommer 1989 erschien. In Bezug auf die Massenflucht über Ungarn hieß es da: „Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“ Herrmann: „Der Kommentar ist dem Generalsekretär vorgelegt worden ohne diesen Satz. Er ist reingeschrieben

worden. Ich habe... den Kommentar an ADN weitergegeben.“

Das war Joachim Herrmann. Ein Medienzar, wie ihn mancher nannte. Oft nur ein „Bote seines Herrn“, aber oft genug auch ein „schöpferischer“ Vollstrecker! Und das waren wir Journalisten. So wie er gehorsam nickte, ein funktionierender Funktionär, so nickte man in den Redaktionsstuben. Seriöse ältere Herren standen stramm, wenn Herrmann sich am Telefon meldete. Herrmann wurde gehaßt, im stillen Kämmerlein leckte man seine Wunden. Doch man ließ sich mit höchstens schwacher Gegenwehr - weiter vergewaltigen und strich die für DDR-Maßstäbe recht beträchtlichen Gehälter ein. Schmerz- und Schweigegeld?

Die Prostitution des Joumalimus durch die Politik erreichte unter Herrmann in der DDR Perfektion. Das war ein Grund für die Wende, für DDR-Journalisten auch Anlaß für ein: Das nie wieder! Doch was ist heute davon übrig geblieben...?

Joachim Herrmann ist tot. Viele Herrmänner leben weiter. Die Macht braucht sie.

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