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  • Politik
  • PDS/Linke Liste erinnert an Gerhard Riege

Es muß ein Kurs der Versöhnung kommen

  • Lesedauer: 4 Min.

In einer Broschüre erinnern die Bundestagsabgeordneten der PDS/LL an ihren Kollegen Gerhard Riege, der vor einem Jahr durch Freitod aus dem Leben schied. Das Vorwort - hier auszugsweise veröffentlicht - schrieb UWE-JENS HEUER.

Vor einem Jahr, am 15. Februar 1992, hatte unser Freund und Genosse Gerhard Riege seinem Leben ein Ende gesetzt. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Mir fehlt die Kraft zum Leben und zum Kämpfen. Sie ist mir in der neuen Freiheit genommen worden. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wahrenJcann. Ich habe, Angst vor dem Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt.“

Am schwersten wog dabei wohl die Reaktion auf seine Rede am 13. März 1991. Das Protokoll verzeichnet in der siebenminütigen Rede nicht weniger als 33 Zwischenrufe wie: „Jetzt verteidigen Sie aber das alte Regime! Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen!“ „Sie sollten das Wort ,Recht' überhaupt nicht in den Mund nehmen. Peinlich so etwas! “ „Was man sich hier von so einem Stasi-Heini anhören muß.“ Ich merkte, wie stark ihn die geradezu hysterische Reaktion von CDU/CSU-Abgeordneten getroffen hatte.

Es gab eine kurze Zeit der Betroffenheit, des Innehal-

tens. Von Unbehagen über die Stasi-Jäger, von atemberaubender und verlogener Selbstgerechtigkeit war die Rede, vor Stasi-Hysterie wurde gewarnt. Der rheinlandpfälzische Innenminister Peter Caesar sprach von gnadenloser Jagd, die viele Westdeutsche derzeit auf Ostdeutsche veranstalten.

Aber sehr rasch ging man zur Tagesordnung über. Inzwischen ist deutlich geworden, daß haßerfüllte Zwischenrufe im Bundestag, Kampagnen der Massenmedien gegen Ostdeutsche, die ihre DDR-Vergangenheit nicht gänzlich verleugnen, seien es Politiker oder Künstler, die Einrichtung einer Enquete-Kommission des Bundestages „Zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“, die Entlassung von einer Million Staatsangestellten der DDR, darunter ein Viertel aller Lehrer, weitaus mehr als die Hälfte der Hochschullehrer und Wissenschaftler, darunter weltbekannte Akademiemitglieder wie Horst Klinkmann, die Beschlußfassung über Sondergesetze für Ostdeutschland, mit denen u. a. in Fortsetzung der begonnenen justiziellen Auseinandersetzung mit Verantwortungsträgern der DDR von Erich Honecker bis zu Grenzsoldaten Hunderttausende von Ermittlungsverfahren und Strafverfahren ermöglicht werden, Bestandteil eines Gesamtprozesses sind.

In diesem Umgang mit Ostdeutschen wirkten viele Ursachen und Motive. Eine Rolle spielt der Wunsch wirklicher oder vermeintlicher Opfer nach Wiedergutmachung, auch Profilierungssucht. Wesentlich ist Konkurrenz von Institutionen, Industrie- und Landwirtschaftsbereichen wie Hochschulen, von Individuen, Betriebsleitern, Hochschulprofessoren, Richtern u. a. Unzweifelhaft wirkt die Notwendigkeit von Einsparungen, nicht zuletzt, um die Möglichkeiten der Ausdehnung deutschen Einflusses in Osteuropa nutzen zu können.

Es ist meine feste Überzeugung, daß dieser Abrechnungskurs, zu dessen Opfern auch Gerhard Riege gehört, durch einen Kurs der Versöh-

nung abgelöst werden muß. Die Stunde der Versöhnung ist aber noch nicht gekommen. Sie verlangt von den Siegern ein Maß an Einsicht und politischer Kraft, zu dem sie noch - nicht fähig sind. Sie setzt aber vor allem den gemeinsamen solidarischen Kampf von Demokraten in Ost und West, setzt Druck aus dem über die Entwicklung in Deutschland besorgten Ausland voraus.

Ich habe mich früher oft gefragt, warum nach den großen Niederlagen, wie der von 1933, die Geschlagenen sich auch untereinander anfielen. Heute ist mir deutlich geworden, daß der Schock der Niederlage, der Zerfall eigener Werte, der ununterbrochene Druck der Argumentations-

macht der Sieger bei den einen das Gefühl der Resignation, das Bedürfnis nach Anpassung, nach Kompromiß, bei anderen den Trotz, das Dennoch verstärkt. Auch bei Geschlagenen, bei weitgehend Machtlosen gibt es um die Reste von Macht noch Auseinandersetzungen. Ich sehe heute das Wichtigste darin, solidarische Formen des Umgangs unter uns und damit die Kraft zum gemeinsamen Widerstand zu finden. Solidarität in der Welt, in Deutschland ist wichtig. Sie muß aber bei denen beginnen, die am engsten zusammenwirken. Handeln wir so, dann handeln wir auch im Geiste der Ansprachen bei der Trauerfeier in Jena am 5. März 1992, im Geiste von Gerhard Riege.

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