Die verspätete Premiere

Dessau: Jens Mehrle inszenierte »Pandora« von Goethe/Hacks

  • Johannes Oehme
  • Lesedauer: 4 Min.
In Dessau, und an gutgewähltem Platz, fand am vergangenen Freitag eine um 20 Jahre verspätete DDR-Erstaufführung statt - nun freilich vor brisant anderem Hintergrund. In dem von Walter Gropius entworfenen »Alten Arbeitsamt« brachte die Theatergruppe um den Regisseur Jens Mehrle das Festspiel »Pandora« auf die Bühne und trug damit eine Schuld ab, die sie gar nicht trifft. Das Goethe-Stück um den großen Gegensatz von Tat und Gedanken, Sinnen und Handeln hatte Hacks Ende der 70er Jahre historisch neu gefasst durch den Bezug auf den großen Gegensatz von Arbeiten und Planen. Das Festspiel Goethes, in grauer Titanenzeit im Tempel des Epimetheus angesiedelt, ist von Peter Hacks überarbeitet, um eine 2. Handlung erweitert und diese in eine DDR-Landschaft verlegt worden, wo der Tempel einer Straßenbefestigung gewichen ist und wo Industrieanlagen das stille Tal zum Menschenknecht machen. Fast 10 Jahre »Hohneckerei« waren da vorüber; keiner wusste, ob die Arbeit oder der Plan mehr im Argen lag; keiner merkte, bis wohin der Widerspruch zwischen beiden noch fruchtbar oder ob er nicht bereits zu bequemem Sowohl-als-auch verkommen war. Und weil es bei Hacks nicht propagandistisch, sondern poetisch zugeht, galt sein neues Drama allen gleich als »schwer verständlich« und »nicht aufführbar«. Niemand in der DDR verspürte Neigung, sich den eigenen Grundwiderspruch vorspielen zu lassen. Es war in Göttingen, wo man 1982 trotzdem eine Inszenierung wagte. Nach 21 Jahren nun die Inszenierung von Jens Merle. Er legt auf die Sonderung der beiden Handlungen wert. Das dunkle, archaisch ornamentierte Tempelgewölbes der Titanen weicht einem kühl durchleuchteten, klaren Bühnenbild. Es ist gesäumt von hohen Leitern, auf denen weit nach der ersehnten Heilsbringerin Pandora Ausschau gehalten werden kann. Epimetheus, weise und mit Tempelaufseherkluft kostümiert; seine Töchter in weißen Flatterkleidern; Prometheus nebst Sohn Phileros, erst in elende Affenfelle gewickelt: alle treten so als feinbefrackte Neuzeittitanen in die zweite Handlung. Der 6-Männer-Menschen-Chor erwächst aus barbarischer Holzfällerbande zu bunter Masse eines modernen, entwickelten, gebildeten, zukunftsfrohen Proletariats einer neuen Gesellschaft. Es gibt Stücke, die ihrer Zeit ästhetisch nicht gewachsen sind; hier aber ist es umgekehrt. Mehrle und seine Truppe beweisen großen Mut, daß sie Goethe und Hacks im hohen Ton für ein Volk von Wert sprechen lassen, sie mit aller Menschenzuversicht aufführen. Justus Carrière spielte einen sinnlichen sinnenden Epimetheus, Teo Vadersen einen bis zum Getrampel resoluten, fleißigen, schwitzenden und manchmal sehr lauten Prometheus, der im 2. Akt ein wenig Ulbricht ähnelt, wie er da, auf einen Krückstock gestützt, die Reichtümer der Nation begutachtet, ohne nach Pandora zu seufzen, ohne also viel vom Eigentlichen, der Zukunft und dem Kommunismus zu faseln. Ungeachtet der geringfügigen Artikulationsprobleme erstand die Handlung prächtig in aller Weltbedeutung vor dem Publikum. Dieses war für den hervorbrechenden Welthumor der Zuversichtlichen Goethe und Hacks etwas unempfänglich. Dass sich die eigentliche Grundfrage des Hacksschen Aktes im Ausspielen der historischen Gegensätze von Plan und Arbeit erschöpfe, ist ein falscher, nicht mal realistischer Schluss. Wenn nämlich 1917 die Büchse der Pandora geöffnet wurde: Was war denn drin? Schon mit der Frage konnte man seinerzeit in Ost wie West Peinlichkeit erregen; Hacks drängte dem Publikum gar noch eine Antwort auf, indem er die Bedingungen für die Wiederkunft der Pandora auf der Bühne forderte und selbst erstehen ließ: subjektiv durch die Ahnung des erkennenden Epimetheus, objektiv durch die Macht des schaffenden Prometheus. Dabei brachten Mehrle und seine Truppe Theaterkunst, die seit den Glanzzeiten des DT für verschüttet gelten darf. Die der ganzen Fabel angemessene Ernsthaftigkeit, der Verzicht auf äußerlichen Klimbim, ließ die papierene Pandora zusehends den Raum ausfüllen. Und die Dichter belebten die äußerst witzig-lebensfrohe und sogar im einfachen Sinne witzreiche Handlung unbedingt, so dass für drei Stunden Aufmerksamkeit, Anteilnahme, auch Lachen und Weinen herrschte. Wo Goethes und Hacks' Größe so lebendig zur Geltung gebracht wird, wo diese »Pandora«-Aufführung nicht mehr scheel auf »DDR-Beschönigung« durchlauscht wird, da wird auch der Irrtum ausgeräumt, als handele es sich um ein goethesches Liebesgeschichtchen mit leichtem, von Hacks ergänztem proletarischen Einschlag und angeblichem Offenbarungsglauben. Hacks ist munter und lässt damit den Goethe, dessen Idee die Zuversicht in die Wiederkunft der Pandora war, zur Geltung kommen, setzt ihn ins Recht, aktualisiert ihn aber auch. So sind die Titanen der Neuzeit nicht die Titanen der hellenischen Welt: Es wollen für Hacks die Früchte des Friedens nicht von Titanen, sondern von den Erschaffern der Reichtümer gepflückt sein. Angesichts der nahenden Wiederkunft der Pandora verblassen auch die einseitigen Standpunkte der Titanen, gehen auf in allgemeiner Erwartung der nahenden Erfüllung der Verheißungen Pandorens - deren Büchse natürlich nicht die Übel, sondern die höchsten Güter enthält. weiter am 5. und 6. 12.
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