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Dietzhausen begegnet sich

Einwohner eines Thüringer Dorfes gestalten eine Ausstellung ihres Alltags

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.
Als Reporter ist man oft misstrauisch. Beispielsweise, wenn Rudolf Denner sagt, er würde seinen Dietzhäuser Dialekt auch nach Jahrzehnten außenhändlerischer Weltenbummelei noch so perfekt beherrschen, dass kaum einer, der nicht aus Dietzhausen ist, etwas versteht. Ha, ha Dietzhausen - was soll in dem Kaff, das man vor Jahren Suhl eingemeindet hat, schon für ein besonderer Dialekt gesprochen werden?! Gemach. Es ist kurz nach zehn, ein Nachbar kommt in die kleine Kirche des Ortes: »Grüß dich Rudolf« Das war's, der Rest klingt, als ob jemand Platt- und Schwyzerdütsch verrührt und mit einem Schuss kehligem Oberlausitzer abgeschmeckt hat. Denner grinst, stellt im braven Hochdeutsch den Zeitungsmann vor und weiter geht's nach Mundes Art. Nun ja, es ist sowieso nicht fein, Nachbarn zu lauschen, wenn die über Nachbarn reden. Und warum sollte man auch, wenn Denner in der Kirche etwas anzubieten hat, was jede Frau, jeder Mann, was Kind und Greis auf sehr eigene Art verstehen. Fotos, hunderte, groß, klein, hoch, quer, scharf, verwackelt, zumeist schwarz-weiß. Was er in der Dorfkirche aufgehängt hat, nennt Denner: »Historisch-fotografische Streifzüge durch die Dietzhäuser Dorfgeschichte.« Er macht zwar die Ausstellung, doch er mag sie nicht als die Seine ausgeben. Das hat nichts mit der Bescheidenheit zu tun, die den Mann zweifelsohne auszeichnet. Auch nicht damit, dass Kirchenvorstand Weißbrodt, der Besitzer des Sägewerkes im Ort, das Holz spendierte und zwei, drei andere handwerklich Begabte die Kirche und eine gegenüberliegende Scheune in eine Galerie zur Begegnungen quasi mit sich und seiner Herkunft wandelten. Sie haben Übung darin, die diesjährige Ausstellung ist bereits die sechste dieser Reihe. Noch wichtiger sind jene Leute, die der Gastgeber »Bilderspender« nennt - und das sind ganz viele Leute aus dem Dorf, die ihm Familienalben bringen, ihn in Schubladen und Kartons gucken lassen und dann fragen: »Rudolf, kannst' das brauchen?« Und Rudolf kann fast alle Fotos brauchen, auf denen irgendwie Dorfgeschichte festgehalten ist. Alljährlich zum Totensonntag, wenn die Einwohner mit Blumen zum Friedhof gehen, stellt Denner in der Kirche aus, was er thematisch zusammengestellt hat. Gut 70 Leute waren in diesem Jahr zur Eröffnung gekommen. Pfarrer Prüfer hat die Glocken geläutet, Denner sprach ein paar Worte, zitierte dabei den Bundespräsidenten, der behauptet hat: »Die Gemeinde ist der Ernstfall der Demokratie.« Das dies kein »Bückling« zur Obrigkeit ist, war allen klar, Denner gilt als »rote Socke« und obendrein ist er so ein Schlitzohr, dass ihm unlängst jemand eine Till-Eulenspiegel-Puppe schenkte. Vetter Till soll einmal in der Thüringer Gegend versucht haben, einem Esel das Lesen beizubringen. So weit geht Denner nicht, wohl aber schickte er dem Suhler Oberbürgermeister so einiges zum Lesen. Es sei doch nicht damit getan, die Schule von Dietzhausen einfach zu schließen, stand in den Briefen. »Stirbt die Schule, stirbt das Dorf!« Schulnetzwerk hin, Geburtenrückgang her - Bildung sei mehr als eine Rechenaufgabe für den Kämmerer, schrieb Denner und lud den OB zur Ausstellungseröffnung ein. Der freilich hatte die Wochenendtermine schon anders verplant. Sein Pech, er hätte Gelegenheit gehabt, dem von Rau beschriebenen »Ernstfall« zu begegnen. Seit 1747 sind Denners in Dietzhausen nachweisbar. Ursprünglich stammt die Familie wohl aus Süddeutschland, doch auch unter den Musketieren des französischen Hofes taucht der Name auf. In der Ausstellung hängt eine Tafel über einen Bäcker namens Friedrich Denner. »Mein Großvater«, sagt Rudolf und zwei Meter weiter deutet er auf ein Foto, das einen Aufmarsch der Dietzhäuser SA wiedergibt. »Der da ist mein Vater«, sagt er knapp. Sohn Rudolf lernte ein solides Handwerk, dann verschlug es ihn nach Berlin. Er studierte Außenhandel bei Christa Luft, erkundete dann bis jenseits von Afrika neue Märkte für die DDR-Chemieindustrie. Nach der Wende vertrat er die Firma Rolley im Osten und näherte sich als Rentner wieder seinem Heimatort, den »ich nicht wirklich verlassen habe«. Er ist sicher, dass er eine Sense noch dengeln kann, mal wieder ackern wäre eine Lust. Bodenwüchsig ist er schon, nur bestellt er ganz andere Felder. Denner pendelt mehrmals im Jahr zwischen Berlin und Dietzhausen. Und egal, wo er das Haus verlässt, es geschieht nur selten ohne Kamera. Er sieht sich in der Tradition der »Arbeiterfotografen«, registriert Leben von unten, ganze Fotoserien machte er von der Palastruine in Berlin, die demnächst ganz verschwinden wird. Die Kamera am Auge ging er zu zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen, dokumentierte Wendezeit im Osten auf sehr eigene Art. 1997 schrieb er mit Gerhard Kaiser ein Buch: »Die Enkel fechten's besser aus«, heißt es und fasst auf gut 200 Seiten Dietzhausens Dorfgeschichte zusammen. »Tja und da fing's mit den Bildern an. Mein Onkel hatte viele Fotos hinterlassen und da dachte ich mir, was der hat, haben doch auch die meisten anderen im Dorf. Und so bin ich von Tür zu Tür gegangen, habe im Wirtshaus mal mit dem, mal mit jenem ein Bier getrunken.« Und wenn Witwe X ihn mal zum Kaffee mit Bildergucken einlädt, bäckt Nachbarin Y bereits den nächsten Kuchen. Bislang, so überschlägt Denner seine Schätze, hat er um die 2900 Fotos bereits gezeigt, so um die 1500 liegen noch in seinem Fundus. Die nächsten vier Ausstellungen über den gelebten Alltag von Dietzhausen sind als Konzept aufgeschrieben. Doch mit dem allein ist es nicht getan. Denner weiß, was die Bilder den Menschen bedeuten, er respektiert, wenn jemand nicht mit dem ersten Verlobten, der nur schlecht zum Ehemann taugte, gesehen werden will. Oder wenn es jemandem peinlich ist, sich in eine falsche Uniform gezwängt zu haben. Doch das ist selten. Im Gegenteil, oft sagen Leute, zeig' ruhig, wie wir zu Werkzeugen wurden. Und so gab es in der diesjährigen Schau wieder Fotos, auf denen junge Leute vor Palmen stehen, die es in Dietzhausen wahrlich noch nie gegeben hat. Stolze Afrikakämpfer und auch Jungs in Uniform der Dönitzschen Kriegsmarine. Weihnachten bei der Truppe, Tannengrün zum Hakenkreuz gewunden Der Dietzhausener Friseur, er ist einer der Wenigen, die aus Stalingrad wiederkamen, hat mit der Kamera grausame Wirklichkeiten beim »Ostfeldzug« festgehalten. Es gibt Bilder aus dem besetzten Frankreich und auch vom Fremdarbeiterlager vor dem thüringischen Ort, in dem so viele Kinder an Unterernährung starben, dass selbst Naziführer bei ihren Vorgesetzten um ein wenig mehr Milch bitten mussten. Denner stellt das und wie man nach der Wende den Gedenkstein verkommen ließ, »selbstverständlich ebenso aus, wie Feldarbeiten auf eigenen Äckern und Karnevalssitzungen in der "Linde"«. Dazwischen zeigt sich der Ort als »Dorf des Gesangs«, von NAW-Stunden beim Bau des Freibades wird berichtet. Wer damals als junger Mann die Schubkarre führte, kommt heute mit den Enkeln in die »Ausstellungskirche«. Das Bad, das die Opas und Omas aufgebaut haben, wird demnächst kommunalen Sparzwängen geopfert, munkelt man im Ort. Die Kirche ist geheizt, dezente Musik vermittelt dem mit Bildtafeln ausgefüllten sakralen Ort zusätzliche Würde. Die Sakristei hat Denner mit des Pfarrers Einverständnis zum weltlichen »Raum der Stille« erhoben. Ein Ort für Reden, Zuhören und Verstehen, in den eingeladen wird »zur Nachdenklichkeit über Dietzhausen, unseren Heimatort, den Ort unseres Lebens oder Erlebens, oder einfach den Ort unserer Herkunft«. So hat's Denner angeschrieben, so wird's verstanden. »Du Rudolf, schau doch mal« Aus Zella-Mehlis kommt eine Frau, sie tritt in den »Raum der Stille« ein und zieht einen Schnellhefter aus der Aldi-Tüte. Militärakten, Briefe, ein paar Fotos - das ist alles, was sie von ihrem Vater hat. Bei ihrer Geburt war er schon totgeschossen. Der Name des Mannes steht hinter der Jahreszahl 1939 als erster auf der an der gegenüberliegenden Wand angebrachten hölzernen Gedenktafel. Denner schaut, vertieft sich, notiert schließlich die Telefonnummer der Frau, um die Rückgabe der Dokumente zu vereinbaren. Er gibt alles, was man ihm als Leihgabe anvertraut, ebenso respektvoll wie umgehend zurück. Nach der Reproduktion. Die in unserer farbigen und digitalisierten Fotowelt nicht so einfach ist. Doch Handelsmann Denner ist ein Fuchs, er beschafft sich meterweise traditionelles Schwarz-Weiß- und Entwickler-Material von einem jugoslawischen Handelskontor. Eine alte Praktika hat er ins Reprogestell eingespannt und so »immer etwas zu tun, wenn andere nur vor dem Verblödungskasten hocken«. Vor ein paar Tagen haben Rudolf Denner und seine Helfer die Kirche von einer Galerie wieder zur traditionellen Gebetsstätte »rückgebaut«. Nun bleibt ein Jahr, um die nächste Ausstellung zu gestalten. Die wird sich stärker mit der Nachkriegsgeschichte befassen, als auch in Dietzhausen nicht wenige etwas euphorisch gesungen haben: »Weg mit dem Alten und was Neues hingebaut« Das mit dem Neuen unterstreicht Denner sofort. Den Anfang der Liedzeile jedoch mag er gar nicht hören. »Wir alle hinterlassen Spuren auf dieser Welt, es hat mit Selbstachtung zu tun, sie nicht zu verwischen.« Eines muss der Reporter unbedingt noch mitteilen: Denner arbeitet nebenbei an einem Dialekt-Wörterbuch. Danke Rudolf!

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