Der junge Erich Loest, nach der atemraubenden Lektüre des Erstlings eines bis dahin unbekannten Autors: »Ich war erschüttert.« Und: Eine echte erzählerische Begabung habe gesprochen, eine ursprüngliche Kraft sei - trotz offenkundiger Schwächen - in diesem Erlebnisbuch sichtbar geworden. Es handelte sich um den autobiografischen Roman »Hinter den schwarzen Wäldern« von Theo Harych, der 1951 in Ostberlin erschienen war. Der Autor, heute vor 100 Jahren im polnischen Doruchów geboren, erzählt darin in einer Mischung von nüchterner Sachlichkeit und höchster Gefühlsintensität, wie er hinter den schwarzen Wäldern, von denen die östlichen Grenzgebiete des wilhelminischen Reiches überzogen waren, als eines von vielen Kindern einer armen Kleinbauern- und Landarbeiterfamilie aufwächst. Eine Kindheit von beispielloser Härte, geprägt vom Kampf um das elementare Existenzminimum. Die kleine Landwirtschaft kann die Familie nicht ernähren, Eltern und Kinder müssen dazuverdienen. Unter diesen elenden Verhältnissen entwickelt sich der Vater zu einem haltlosen Säufer, der Frau und Kinder fast zu Tode prügelt; die Mutter flüchtet sich in eine bigotte Frömmigkeit, die sie alles mit fatalistischer Geduld ertragen lässt. Der Knabe, als Ochsenknecht an einen Bauern verschachert, dessen Brutalität seinesgleichen sucht, wird zu einem Selbsthelfer bar jeglicher Sentimentalität. In verzweifelter Einsamkeit tröstet er sich mit der Gesellschaft zutraulicher Ratten. Ein düsteres Buch, aber ein Text von radikaler Wahrhaftigkeit, der den Leser in den Strudel seiner Trostlosigkeit hineinzieht und auf seine Art ebenfalls für die frühe DDR-Literatur konstituierend gewesen ist. Die Lektüre solcher Bücher, ähnlich bei Strittmatter, Voelkner trug zur Legitimation der anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen bei.
Nach dem Ersten Weltkrieg verließ Theo Harych seine Heimat, um im mitteldeutschen Braunkohlentagebau sein Brot zu verdienen. Dort nahm er an Streiks und Aufständen der Arbeiter teil. Von diesen Erfahrungen zehrt sein zweiter Roman »Im Geiseltal« (1952), der ebenfalls erregende Passagen enthält, aber jene eindringliche Tonart nicht durchhält. Die parteioffizielle Bewertung der historischen Ereignisse, insbesondere einer solchen Persönlichkeit wie Max Hölz, den Harych überaus schätzte, wirkten sich in der Anlage und Ausführung des Buches ungünstig aus.
Arme-Leute-Literatur? Gewiss. Was Harych durchlitt, wird heute in unseren Breiten nur noch an den Rändern der Gesellschaft erfahren, ist eher in anderen Weltgegenden anzutreffen. Die auf Bestsellerlisten eingestimmte Literatur hält sich davon weitgehend fern. Ulla Hahn hat schon Recht, wenn sie die mit den Realitäten des Lebens konfrontierte Leserin in ihrem Roman »Das verborgene Wort« fragen lässt: »Warum gab es weder Maurer, Metzger, Bäcker in den Büchern, ganz zu schweigen von Fabrikarbeitern, Straßenfegern, Müllmännern?« Eine anhaltend aktuelle Frage, weshalb Bücher wie die von Theo Harych ein wertvolles, unentbehrliches Segment in der Literatur des 20. Jahrhunderts sind.
Die Deutschen und die Polen - Harychs zweites Thema. Für seine Eltern war Polnisch Muttersprache, auch er sprach es fließend. Die älteren Geschwister blieben in Polen, er ging wie viele polnische Arbeitsmigranten damals nach Deutschland, wurde schließlich ein deutscher Schriftsteller. In »Hinter den schwarzen Wäldern« schildert er die Lage an der neuen Grenze zwischen Deutschland und Polen 1918, wo sich die Soldaten, »die noch vor kurzem Schulter an Schulter an der Front gestanden haben«, nun feindlich gegenüberlagen. »Zwischendurch saßen der deutsche und der polnische Grenzschutz friedlich beisammen und rauchten Zigaretten. Dann befahl wieder jemand zu schießen, und sofort versuchten sie einander umzubringen.« Der literarische Beitrag eines Kompetenten zu dem in diesen Jahren auch in der DDR viel diskutierten Problem der Grenzziehung an Oder und Neiße als Friedensgrenze.
Auch sein letzter Roman gehört in diesen Zusammenhang. »Im Namen des Volkes« (1958) rekonstruiert aus den Akten den Fall des polnischen Landarbeiters Jakubowsky, der von reaktionären, nationalistischen deutschen Richtern unschuldig zum Tode verurteilt wird. Die Affäre hatte in den 20er Jahren internationale Aufmerksamkeit gefunden. Das Buch bewegt vor allem durch die Figur des mit starkem Einfühlungsvermögen gestalteten integren Opfers, teilweise gibt der Autor darin wiederum ein modifiziertes Bild seiner eigenen Jugend.
Im Jahr, als dieser Roman erschien, schied Harych am 22. Februar aus dem Leben, durch Selbstmord, wie zuvor zwei seiner Brüder. Das Suizid-Motiv war auch in seiner Prosa schon verschiedentlich aufgetaucht. Als Ursache dafür nicht von der Hand zu weisen aber auch: wachsende Unzufriedenheit über Vorgänge in seiner Lebensumwelt. Das Thema des ungerechten Richters, gerade in seinem Roman der Drehpunkt, war in Sachen Janka und Harich sehr gegenwärtig, es berührte bekanntlich auch andere Autoren. An einem Aufbau-Roman über die Stalinallee war er mit seiner Sicht der Dinge gescheitert. Erlebnisse also, die wohl Depressionen auslösen konnten, gerade weil Harych auf den gesellschaftlichen Neubeginn große Hoffnungen gesetzt hatte. Dieser Autor war, wie Brecht über Strittmatter sagt, nicht aus, sondern mit dem Proletariat aufgestiegen. Die Losung »Schreibs auf, Kumpel« war lange vor Bitterfeld Anstoß für seinen ersten Roman gewesen. In Joachim Barckhausen, dem Ehemann Elfriede Brünings, seinerzeit Lektor im Verlag Volk und Welt, fand er einen verständnisvollen Förderer. Der Schriftstellerverband unterstützte ihn materiell. So entstand Literatur, die sonst ungeschrieben geblieben wäre.
Heute ist ein Schriftsteller wie Theo Harych fast vergessen, seine Bücher werden nicht aufgelegt. An ihn und sein Werk zu erinnern ist deshalb bitter nötig.
Siehe auch: Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. Piper Verlag. 475S., geb., 30. Diesem Band ist auch das Foto (hier ein Ausschnitt) entnommen.
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