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Das erste und letzte Wort

(Fortsetzung von Seite 9)

  • Lesedauer: 6 Min.

Angesichts des Irrsinns von gegenwärtiger Politik macht der Vorwurf, das Volk sei zu dumm, sich selbst direkt zu regieren, erst recht keinen Sinn. Die Schweiz praktiziert fünfhundert Jahre schon die unmittelbare Demokratie der Volksabstimmungen. Ein Faschismus blieb aus. Vor einiger Zeit haben mehr als 40 % für die Abschaffung der Armee gestimmt. Durchbrüche aus den politischen Sackgassen einer Parteienherrschaft sind nicht über wechselnde Mehrheit bei Wahlen zu erreichen. Das Volk selbst kann in öffentlichen Diskussionsprozessen über jene einzelnen Punkte wie soziale Grundsicherung, Sicherung des Rechts auf Arbeit und Wohnung oder Abschaffung des §218 entscheiden. Schlechter kann es dadurch nicht werden. Besser allemal.

Alle Lebensweise beruht auf Arbeit

In Europa gibt es mehr als 70 Millionen Erwerbslose. Gleichzeitig wird die allernotwendigste Arbeit für die Lösung elementarer menschlicher Existenzprobleme nicht geleistet. Während die einen durch Arbeitsdruck oftmals überfordert werden, werden die anderen als „nichtverwertbar“ ausgestoßen. Die alltäglichsten Selbstverständlichkeiten - Arbeit, Wohnung, gesundheitliche Versorgung - sind heute nicht mehr sicher. Dies ist zumindest in einigen Bereichen ein Rückschritt um Jahrzehnte. Gesellschaftlich nützliche und bezahlte Arbeit als Lebensmöglichkeit für alle ist und bleibt unersetzbar. Erst durch Arbeit werden Menschen über ihre Familie hinaus in die Gesellschaft dauerhaft integriert. Bezahlte Arbeit ist der wichtigste gesellschaftliche Zusammenhalt. Ohne sie ist wie Ende der zwanziger Jahre - die Möglichkeit jedes Grundkonsenses und jeder Demokratie im Kern zerstört. Mit dem Ausschluß aus der Erwerbstätigkeit und der Nichtanerkennung vieler Arbeiten als Erwerbstätigkeit schwinden oder verschwinden die Chancen für ein selbstbestimmtes Leben, für eine eigenständige soziale Sicherung, für ein vollwertiges Leben. Die achtziger Jahre und die Jahre seit 1989 haben diese Chancen vor allem und zuerst vielen Frauen, Jugendlichen, Ausländerinnen und Ausländern, Menschen über 45 und Menschen mit Behinderungen genommen. Im Osten Deutschlands sind zwei Drittel der 52- bis 54jährigen ohne Arbeit. Öffentliche Meinungsfreiheit und freie und geheime Wahlen sind die ersten Staatsbürgerrechte. Das Recht auf bezahlte und gesellschaftlich nützliche Arbeit sowie auf bezahlbare Wohnung sind die ersten Menschenrechte. Das Ausstoßen in längere Arbeitslosigkeit ist ein Verbrechen. Politiker, die derartig elementare Rechte vielmillionenfach nicht zu verwirklichen vermögen, haben abgewirtschaftet. Doch die Alternativen liegen auch hier auf dem Tisch.

l T Runde Tische der Arbeitspofitik braucht das Land

Für sechs Monate sollte der öffentliche Dienst und sollten die großen Unternehmen nicht entlassen dürfen. Die soziale Ausgrenzung muß zunächst einmal gestoppt werden. In dieser Zeit sind an Runden Tischen Konzeptionen zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu diskutieren und zu vereinbaren. Betroffenen muß die Chance gegeben werden, Auswege selbst zu finden. Alle Phantasie wird gebraucht, um zunächst einmal das Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, sie dann zu reduzieren und schließlich zu überwinden. Dazu sind neue Arbeitszeitmodelle, die Verkürzung der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit und steuerpolitische Regelungen zugunsten der Arbeitsplatzbeschaffung und zulasten ihrer Vernichtung einzuführen. Die Bundesanstalt für Arbeit und die Arbeitsämter müssen aus bürokratischen Verwaltungen der Arbeitslosigkeit in Organe aktiver arbeitsplatzschaffender Politik und vor allem der Förderung der Fähigkeit Betroffener, sich neue Arbeitsfelder zu erschließen, umgewandelt werden. Reproduzierende Arbeit in Bereichen der Familie, Kindererziehung, ?Pflege, der Kultur und der Naturerhaltung ist für die Bewahrung und das Gedeihen der Gesellschaft unverzichtbar und muß endlich ihre Anerkennung und Bezahlung finden.

Gewerkschaften europaweit

Historisch waren es die Gewerkschaften innerhalb von Staaten, die den nationalen Arbeitsmarkt zivilisierten. Heute wird die Macht von Gewerkschaften und der Initiativen von Erwerbslosen für den Arbeitsmarkt der europäischen Union und den Bereich der KSZE gebraucht, um den Rückfall des Arbeitsmarkts in die Barbarei zu stoppen. Nur sie sind in der Lage zu sichern, daß Europa weiterhin durch hochqualifizierte und gutbezahlte Arbeitsleistungen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleibt. Eine wirkliche Sozialcharta muß den Wettbewerb um billige und schlechte Arbeit stoppen. Diesen Wettbewerb würden wir übrigens zuallererst verlieren.

Das Wichtigste: Neue Nachfrage nach qualifizierter Arbeit

Fünfzig Jahre lang wurden die Industriegesellschaften in West und Ost vor allem durch die Nachfrage nach Konsumgütern und Rüstungsgütern angetrieben. Dies muß vorbei sein. Mehr Lebenschancen durch weniger Verbrauch und ohne Rüstung sind überlebensnotwendig. Es gibt neue Arbeitsfelder, auf denen wir und unsere Fähigkeiten gebraucht werden. Nur durch sie werden Gegenwart und Zukunft gesichert. Eine ökologische Revolution der Produktions- und Lebensweise steht spätestens seit den 70er Jahren aus. Wohnungsbau, öffentlicher Nahverkehr, Bildung und Kultur, eine Umwälzung der gesamten Infrastruktur und Kommunikation, die Schaffung einer kinderfreundlichen und altersgerechten Gesellschaft verlangen nach unserer Arbeit.

(Fortsetzung auf Seite 10)

Dem Osten und Südosten Europas muß zur Selbständigkeit geholfen werden. Der mörderische Zyklus der Unterentwicklung im Süden ist zu durchbrechen. Auch hier wird nach uns gerufen. Es ist fast zu viel Arbeit da. Alle diese neuen sozialen, ökologischen und kulturellen Notwendigkeiten müssen dringend in zahlungsfähige Nachfrage verwandelt werden. Dies war vor hundert und vor fünfzig Jahren möglich. Es ist auch heute möglich. Dazu bedarf es wieder eines New Deal, eines neuen Gesellschaftsvertrags.

Der Wirtschaft eine Zukunft

Von der Wirtschaft hängt unsere Zukunft ab - Arbeit, Einkommen, soziale Sicherheit, Naturerhaltung, Solidarität. Und die Wirtschaft hängt davon ab, daß neue ökonomische Entwicklungschancen gefunden werden. Die sich selbst tragende Entwicklung im Süden, die Stabilisierung im Osten, ökologische Nachfrage im Westen sind die Säulen neuer Märkte. Sie sind nicht da, sondern müssen geschaffen werden. Dies sind die entscheidenden Felder verantwortungsvollen Unternehmertums am Ende des Jahrhunderts.

Kapitalressourcen für den sozialökologischen Umbau

Über 700 Mrd. DM haben deutsche Unternehmen als liquides Kapital ohne feste Anlage. Es lohnt sich offensichtlich zur Zeit nicht, sie in die Produktion zu investieren. Allein von 1990 bis 1992 wurden von Unternehmen und Handelsketten der alten Bundesländer rund 40 Mrd. DM zusätzliche Gewinne in den neuen Bundesländern gemacht. Auf das Neunfache, auf über 200 Mrd. DM, gestiegen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten die arbeitsunabnängigen Einkommen aus Vermögen in der Bundesrepublik. Weltweit werden täglich fast 1 Billion Dollar an Devisen gekauft und verkauft. Würde auf diese internationalen Umsätze von Finanzkapital eine Umsatzsteuer von einem Zehntel Prozent erhoben, so wären dies jährlich schon eine halbe Billion Deutscher Mark, die ihrer parasitären und weltwirtschaftlich bedrohlichen Verwendung entzogen wären, Eine Kürzung der weltweiten Rüstung auf die Hälfte würde etwa eine dreiviertel Billion DM freisetzen. Die Kapitalressourcen sind also da. Sie müssen nur erschlossen werden. Und sie sind für die Schaffung einer Nachfrage zu nutzen, die dieses Kapital in neue Richtungen lenkt. Durchsetzung einer naturerhaltenden Produktions- und Lebensweise, Verwandlung v#n-Elends.r,egj,c>nen t , der Erde in lebenswerte Läridscnäfteri“, wo“ -Menschen)unsere Produkta-brauchen und wir ihre, Ausbau verbindender Infrastrukturen zwischen Ost und West, Nord und Süd, ein Leben ohne soziale Angst braucht Kapital, verantwortungsfähiges Unternehmertum, vor allem aber unsere eigene Arbeit.

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