Pinel, Postel, Psychiatrie-Morde - der Künstler christoph meyer chm macht deutsche Psychiatriegeschichte in Zschadraß anschaubar
Tom Mustroph
Lesedauer: 7 Min.
Sanft an die Hügel oberhalb der Mulde schmiegt sich die 800 Einwohner umfassende Gemeinde Zschadraß. Sie wirkt verlassen und im Umbruch zugleich. Die zu DDR-Zeiten renommierte Lungenheilanstalt wurde geschlossen. Die psychiatrische Anstalt wurde vom Diakoniewerk übernommen und betreut gerade einmal 140 psychiatrische und 35 neurologische Patienten. Das ist herzzerreißend wenig, wenn man bedenkt, dass die aus 45 Gebäuden bestehende und 21 Hektar umfassende Anlage für mehr als 1000 Patienten ausgelegt war. Christoph Fischer, ökonomischer Leiter des Diakoniewerks, versucht, dem medizinischen Großdorf neue Vitalität zu verleihen. Einige der villenartigen Ziegelsteinbauten werden zu Appartement-Häusern umgebaut. In anderen haben sich Ärzte niedergelassen, die Betreiber eines Labors, ein Apotheker, eine Wäscherei, ein Bauhof. Zusätzlich soll das Kunst- und Museumsprojekt Zschadraß auswärtige Besucher anziehen und das gesamte Ensemble kulturell aufwerten.
Große Transparente sorgen schon im benachbarten Colditz für Aufmerksamkeit. »www.ort-jenseits-der-strasse.de« ist zu lesen. Und »da wurde etwas Geschichte geschrieben«. Weil dieser Ausspruch so ergreifend naiv ist, ist man geneigt, ihn einem Patienten der Anstalt zuzuschreiben. Gleichzeitig ist in ihm eine Ahnung von der Dimension der Ereignisse enthalten, deren stumme Zeugen Mauern und Bäume in Zschadraß sind.
Vor mehr als 100 Jahren wurden hier die Irren befreit. Am 15. April 1868 zog ein Oberwärter der nahe gelegenen Anstalt Colditz mit seiner Familie und zwei Kranken in ein Bauerngut in Zschadraß. Drei Wochen später folgte ein weiterer Wärter mit sechs Kranken. Sie richteten eine Meierei ein, in der im Juni desselben Jahres 45 Kranke und drei Pfleger arbeiten sollten. Ende des Jahres betrieben 72 Pfleglinge die landwirtschaftliche Kolonie. Sie wurde errichtet, um Platz in der überfüllten Hauptanstalt zu schaffen, aber auch - wie der verantwortliche Psychiater Friedrich August Herrmann Voppel argumentierte - um »den Irrsinnigen eine dienliche und weitmöglichste Freiheit zu gewähren, den wohlthätigen Einfluß der Landluft und einer die Kräfte der Irren übenden und sie allmählig fesselnden Beschäftigung zu gewinnen und die ohne Zwang erfolgte Zurückdrängung ungeordneter bestrebungen unter die herrschaft gemeinnützlicher Täthigkeit practisch zu erweisen«. Voppel orientierte sich an der revolutionären Praxis des französischen Psychiaters Philippe Pinel, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts in Paris Geisteskranke aus den stinkenden Löchern, in denen sie verwahrt wurden, herausgeholt und mit Beschäftigungs- und Arbeitstherapie auch erste Erfolge erzielt hatte. Gleich dem »Vater der Irrenbefreiung« verzichtete Voppel in Zschadraß auf die übliche Einschließung der Kranken. Keine Mauer wurde um die Anlage gezogen. Das neue Konzept, nach der agricolen Kolonie in Einum bei Hildesheim 1864 der zweite Versuch dieser Art in Deutschland, ging so gut auf, dass sich die Anstalt vergrößerte. Neue Bereiche wie der Tabakanbau kamen hinzu. Die Anstalt wurde zum Wirtschaftsbetrieb, bei Kriegsbeginn 1914 waren ca. 1000 Kranke hier tätig.
Das zweite einschneidende Ereignis in der Geschichte von Zschadraß sollte die sogenannte »Aktion T4« (benannt nach dem Sitz der »Euthanasie«-Behörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin) im Jahre 1940/41 bringen. Zschadraß diente bei den Euthanasiemorden des Dritten Reiches als »Zwischenstation«. Hierher wurden von Juni 1940 bis Oktober 1941 mindestens 1538 Patienten aus anderen sächsischen sowie thüringischen und schlesischen Anstalten transportiert, um anschließend in Sonnenstein vergast zu werden. Hinzu kommen 226 Stammpatienten, die das gleiche Schicksal ereilte.
Noch einmal Geschichte schrieb die Anstalt, als von 1995-97 der Hochstapler Gerd Postel als Oberarzt in Zschadraß wirkte und sich höchster Wertschätzung des Klinikdirektors wie des sächsischen Gesundheitsministers erfreute. Der gelernte Postbote Postel hatte zuvor schon als Assistenzarzt in Oldenburg, leitender Arzt in Bremen, Stabsarzt der Bundeswehr in Nienburg sowie Amtsarzt im sozialpsychiatrischen Dienst in Flensburg Wissenslücken mit offenbar blendender Rhetorik zu verdecken vermocht.
Auf eindrucksvolle Art überführt nun der junge österreichische Künstler christoph meyer chm diese historischen Zusammenhänge wie überhaupt den Versuch, am Menschen etwas zu erkennen und verbessern zu wollen, in einen sinnlich erfahrbaren Wissensparcours. Eine Sequenz von fünf aufeinander folgenden Räumen berührt durch die Überlagerung von Faktenwissen, emotionaler Erkenntnis und ästhetischem Genuss.
Der erste Raum empfängt den Besucher wie der Krater eines Vulkans. Feuer scheint in ihm zu lodern, das mit großer Energie alles gleichmacht, nämlich in Asche verwandelt. Gleichzeitig mutet der Raum wie ein Vorhof zur Hölle an; er markiert den Beginn eines Eindringens in tiefere Schichten. Verkohlte Schränke stehen mitten im Zimmer. Ihre Oberfläche ist schartig und verletzt; ein Schrank gar ist mit Mull umwickelt. Doch im Inneren bergen sie Fundstücke wie Schätze. Fotos und Arbeitskleidung aus den Anfängen der Meierei sind hier aufbewahrt. Ein weiterer Schrank enthält Akten zu den Euthanasie-Morden. Mit »verlegt in eine andere Anstalt« wird hier der Abtransport in die Vernichtungsanstalt Sonnenstein verklausuliert. Ausliegende Krankenakten legen den Schluss nahe, dass hier häufig alte und schwer zu disziplinierende Menschen als »krank« stigmatisiert und in den Gastod geschickt wurden. »Kommt ohne Papiere zur Aufnahme, starke Alterserscheinungen, incontinentia urinae, Arteriosklerose. Wacklig. Hilft sich aber in allem selbst«, heisst es in einer Akte. Alle Eintragungen enden mit »verlegt in eine andere Anstalt«.
Der zweite Raum bietet einen extremen Kontrast. Er ist sehr hell, sehr aufgeräumt. Lichtkästen zeigen historisches und neueres Lehrmaterial zur Vererbungslehre und Statistiken über Erbkrankheiten. In der Mitte ein Krankenhausbett. Legt man sich auf das Bett, verändert man seine Perspektive und nimmt die analytischen Materialien nun mit dem Blick des Kranken wahr. An der Decke, direkt über dem Bett, ist wie ein Spiegelbild ein zweites Ruhemöbel befestigt. Auf ihm notiert sind Fragen wie: »Ab wann funktioniert ein Mensch?« und »Wie spüren Sie Ihr Gen?« Der medizinisch-rationale Zugriff auf den Menschen erscheint nun zumindest als des Fragens würdig.
Der dritte Raum dokumentiert das Leben mit den Kranken und der Krankheit. Propaganda aus den 20er Jahren ist zu sehen (»Jeder Kranke muss von den gesunden Volksgenossen mitgeschleppt werden«, argumentiert ein Plakat), aber auch heutige Praxis. Eine Videoprojektion zeigt eine fünfköpfige Familie beim Abendbrot. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, wer der Kranke ist.
Raum 4 ist zunächst ein Schock. Man wird seines Sehsinns beraubt. Finsternis herrscht. Stimmen fluten durch den Raum. Patienten berichten von ihrer Angst, davon, wie sie eingesperrt wurden. Schließlich erkennt man große Bienenkörbe, die von der Decke herabgelassen sind. Man kann sich in sie hineinsetzen und dann jedwede Orientierung in Zeit und Raum verlieren, spüren, wie nahe man selbst daran ist, aus der Realität zu verschwinden, wenn man eingesperrt, nur auf den eigenen Körper zurückgeworfen ist. »Morgen kannst du auch zu denen gehören«, ist es dem Geschäftsführer der Diakonie, Christoph Fischer, hier durch den Kopf geschossen. Keine gesellschaftliche Anerkennung, kein Geld, keine Liebe könne einen Menschen davor feien, Patient zu werden.
Im fünften Raum schließlich ist auf einmal alles wieder da. christoph meyer hat einen komplett verspiegelten Kubus geschaffen, in dessen Mitte man sitzt. Das eigene Bild ist in alle Richtungen in unendlicher Wiederholung gespiegelt. In kurzen Abständen werden Lichtimpulse in den Raum gegeben, die nicht nur immer wieder zurückgeworfen, sondern auch in ihre Spektralfarben zerlegt werden. Ein Mobile schwebt im Raum und verknüpft sich in der Tiefe zu einem netzartigen Gebilde. Es könnte ein neuronales Netz sein. Man fühlt sich wie der sprichwörtliche Beobachter in einem Gehirn. Man kann zuschauen, wie es arbeitet. Man weiß nicht, ob es winzig oder riesengroß ist. Man weiß nicht einmal, wie groß man selbst ist; ja, der eigene Körper kann vernachlässigt werden. Man ist nur noch Sehsinn., spürt allenfalls einen Windhauch, wenn das Mobile sich nahe der eigenen Haut bewegt.
Man macht tatsächlich eine »Erfahrung« in diesen Räumen. Besucht haben sie bislang hauptsächlich Journalisten und Fotografen, die die Kunde von diesem Ort in alle Welt tragen werden. Die Patienten waren bei der feierlichen Eröffnung im November viel zu sehr mit ihrem eigenen Festprogramm beschäftigt. Doch sehen die Ärzte sogar Möglichkeiten, einzelne Räume für die Therapie zu nutzen.
ort jenseits der strasse, Kunst + Museumsprojekt Diakoniewerk Zschadraß, Im Park 15 a. Geöffnet mittwochs zwischen 13 und 17 Uhr oder nach telefonischer Vereinbarung (034381/87403)
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