Eine jüdische Haut

Mark Pukhovytskiy und seine Familie wohnen seit sieben Jahren in Erfurt. Da er keine Arbeit hat, lebt er für ein Ehrenamt

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Seit Anfang der 90er Jahre verließen 167000 Juden den implodierenden Sowjetstaat, um sich in Deutschland anzusiedeln. Keine jüdische Gemeinde wächst derzeit schneller als die deutsche. Natürlich ist es nicht verbrieft, doch die Flüchtlinge, die Deutschland aufnimmt, gelten als ein »Preis« der Einheit, den Michael Gorbatschow und Helmut Kohl vereinbarten. Welches Interesse hatte Gorbatschow, die sowjetischen Juden ziehen zu lassen? Welches - außer die Einheit zu erringen - hatte Kohl, sie einzuladen? Ein gewichtiges deutsches Interesse dürfte darin bestanden haben, nun, da es plötzlich möglich schien, die Nachkriegssanktion der Teilung aufzuheben, vor dem Auge der Welt auch andere Schatten der Vergangenheit abzustreifen. Menschen wie Mark Pukhovytskiy können dazu beitragen: »In Deutschland herrscht Demokratie«, bezeugt er. »Eine zweite Nazizeit, da bin ich sicher, wird es hier nicht geben.« Mark Pukhovytskiy lebt in Erfurt. »Puchovitzki«, hilft er uns, seinen Namen auszusprechen - wie schwer muss es ihm gefallen sein, deutsche Namen zu modulieren. Er hat es gelernt, noch nicht perfekt, und bei der Suche nach deutschen Wörtern, über die er dann doch nicht verfügt, bleiben Nuancen auf der Strecke. Eine schwierige Unterhaltung. Über ein sehr schwieriges Thema. Dabei kamen die Pukhovytskiys bereits vor acht Jahren nach Deutschland. »Wir haben nicht viele deutsche Freunde, mit denen wir reden können«, erklärt er. Ja, hier schließt man Freundschaften bei der Arbeit. Und sowohl Mark, ein Ökonom, der schon 58 ist, als auch seine Frau Olga, Buchhalterin, werden hier nie Arbeit finden. Das stand fest, von vornherein. Sie leben von Sozialhilfe. Besser als einst in der Ukraine. »Wir sind zusammen mit meiner Mutter und unseren Kindern hergekommen. Wir dachten: eine Wohnung, vielleicht zwei Zimmer. "Nein", wurde uns sehr freundlich gesagt, "Sie sind eine große Familie, vier Zimmer sind das Mindeste." Die Wohnung liegt im Erfurter Zentrum.« 60 Jahre nach dem Holocaust leben Juden nirgends so sicher und abgesichert wie in dem Land, das versuchte, sie auszurotten. Das ist auch gut so. Selbst wenn deutsche Nachbarn es gelegentlich anders empfinden. Wir sitzen Mark Pukhovytzkiy im Büro von »Via shalom« gegenüber. Auch Elena Reichardt, Projektleiterin und zugleich die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin, ist bei dem Gespräch zugegen. »Via shalom« sei eins ihrer »Kinder«: ein Projekt zur Integration jüdischer Einwanderer in Erfurt. Sie komme selbst aus »dieser Klientel«, die ihr sehr am Herzen liege, weil sie »den ganzen Schmerz dieser Menschen, ihre Unsicherheit, ihre Sehnsucht, sich hier heimisch zu fühlen«, kenne. Sie spricht vom »Problem der Gettoisierung«, wo Einwanderer unter sich blieben und die russische Sprache pflegten, was sie persönlich »nicht so begrüße«. Deshalb schaffe »Via shalom« einen »Raum, wo sich Leute begegnen können, ganz verschiedene Identitäten«. Es gebe das »Jüdische Café«, das nicht wirklich ein Café sei, sondern eine Veranstaltungsreihe, sowie zwei Radiomagazine, eins in russischer und eins in deutscher Sprache. »Ohne Mark«, sagt Elena Reichardt, »der ehrenamtlich bei uns mitmacht, bekämen wir all das nicht auf die Reihe.« Über Mark Pukhovytskiys bärtiges, kräftig konturiertes Gesicht, das an einen Holzschnitt erinnert, huscht Freude über die Anerkennung. Ein schönes, ausdrucksvolles Gesicht, mit dem ihn die Natur für den kleinen Körper, in den sie ihn steckte, entschädigt. Sicher, sagt er, er helfe gern. Bei den jüdisch-israelischen Kulturtagen, bei »Radio Shalom«, der Café-Reihe. Er organisiere Veranstaltungen, mit denen man vor allem versuche, deutsche Nachbarn, doch auch Immigranten mit der jüdischen Kultur, mit Sitten und Gebräuchen bekannt zu machen. Seine Frau Olga, die jüdisch koche, bereite dann jüdische Spezialitäten, beispielsweise »gefillte Fisch«, der immer sehr gut ankomme... Der arbeitslose Mark Pukhovytskiy, dem in der Vierzimmerwohnung die Decke auf den Kopf fiele, findet seinen Lebenssinn darin, »gefillte Fisch« auf deutsche Tische zu bringen. Das ist gut so, doch auch traurig. Ist er deshalb hergekommen? Er wurde 1946 in Dnjepropetrowsk geboren. Dort lebte er ein halbes Jahrhundert, bis 1996. Über 30 Jahre, bis zum Schluss, hatte er in einer Baufirma Arbeit. Trotzdem sei es kein schönes Leben gewesen, sondern eines mit Demütigungen, voller Diskriminierungen... Dies ist eine Stelle des Gesprächs, an der ihm scheinbar die Wörter fehlen, das Erlebte auszudrücken. Doch er schüttelt den Kopf, daran läge es nicht. Welche Wörter gäbe es denn für ein »deklassiertes Lebensgefühl, für den Druck auf uns, den wir immer spürten«? Er greift auf Greifbares zurück: Von einer Million Einwohnern, die die Ukraine zählt, seien vor der Revolution 30 Prozent Juden gewesen. In seiner Heimatstadt Dnjepropetrowsk habe es mehrere Synagogen und eine jüdische Schule gegeben. Nach der Revolution sei nur eine Synagoge übrig geblieben. »Sie befand sich in einem sehr schlechten Haus, nur alte Leute gingen hin. Es gab kein gesetzliches Verbot, doch die meisten fürchteten sich, dass man sie mit dem Judentum in Verbindung bringt.« Viele Juden hätten versteckt gelebt. Während sich Juden in Deutschland zum Beispiel immer als Deutsche gefühlt hätten, hätten sie sich in der Ukraine nie als Ukrainer gefühlt, sondern als Juden - so stand es in ihren Pässen. Wem es nach dem Krieg gelungen sei, sich neue Papiere zu beschaffen, in die er als Nationalität nicht »jüdisch«, sondern »ukrainisch« eintragen ließ, der habe auch nichts gewonnen gehabt: »Jeder wusste, du bist Jude. Oder du hast jüdische Wurzeln.« Vor der Perestroika hätten Juden nicht alles studieren dürfen, und wenn sie eine Arbeit suchten, zig Befürwortungen vorlegen müssen. Nach der Perestroika, »vor allem mit Glasnost, was ja hieß, man konnte jetzt alles sagen«, seien alle Dämme gebrochen. »Es war eine Situation wie Anfang der Nazizeit 33.« Elena Reichardt, geborene Wassiljewa, bestätigt Pukhovytzkiys Eindruck. Die heute 42-Jährige lebte damals in Leningrad, arbeitete als Deutschlehrerin, weshalb sie nach 13 Jahren in Erfurt nahezu akzentfrei deutsch spricht. In ihrem Pass stand nicht »jüdisch«, sondern »russisch«. Und tatsächlich, erklärt sie uns, sei sie nicht Jüdin im halachischen Sinne. Die Halacha - das jüdische Gesetz. Es bestimmt: Jude ist nur, wer eine jüdische Mutter besitzt. Antisemiten achten es nicht, siehe die deutschen Rassengesetze. Ihre Mutter sei keine Jüdin gewesen, weil »nur« deren Vater Jude war, habe sich aber so gefühlt. Ihr Vater als Kind einer jüdischen Mutter war dagegen »wirklich Jude, obwohl er es nie wahrhaben wollte«. Sie habe auswählen können, welchen Eintrag sie in ihrem Pass vornehmen ließ und sich gegen »jüdisch« entschieden: »Niemand hätte das anders gemacht. So waren die Verhältnisse.« Die Russin Elena Wassiljewa, sagt Elena Reichardt heute, habe ihren jüdischen Teil verdrängt. Als Nachteiliges, Minderwertiges. Erst mit Glasnost sei sie hart auf ihr jüdisches Erbe gestoßen worden: Sie war mit Freundinnen unterwegs, als eine Gruppe junger Männer sie als »Saujüdin« beschimpfte. »Sie hatten ein Objekt für ihren Hass gefunden. Dabei kannten sie mich gar nicht. Es ist ja ein Tabuthema, doch ich sah einfach anders aus als meine russischen Freundinnen. Es hieß: Schlag nicht den Pass, schlag die Fresse.« Beschimpfungen, Verletzungen - für den kleinen Juden Mark Pukhovytskiy beinahe von Geburt an Alltag. »Sie gehörten zu unserem Leben, wir waren daran gewöhnt.« Und dieses Gewöhntsein, dieses Dulden macht uns plötzlich doch noch den Druck, »den wir immer spürten« begreiflich: mehr als 2000 Jahre Mobbing. Jeden Tag beweisen müssen, kein Mensch zweiter Klasse zu sein, ohne Aussicht, zu überzeugen. Wissen, dass jüdische Wissenschaftler und Künstler auf der Liste der Leninpreisträger überproportional präsent sind, aber dennoch verachtet werden. An jedem Ort, an den es einen verschlägt, gefragt werden, wieso man hier ist. Sich nicht wehren können, es nicht mal versuchen: »Wir hatten keine Wahl. Das versteht nur, wer in einer jüdischen Haut steckt.« Wie wird man in einer jüdischen Haut? Hasst man? Wächst der Wunsch in einem, irgendwann zurückzuschlagen? Elena Reichardt schüttelt ihr flammendes Haar: »Man fühlt sich hilflos, ohnmächtig. Die Aggression richtet sich nach innen.« Aber, erlauben wir uns zu zweifeln, die Juden, die heute in Israel leben, hätten doch eine ganz andere kollektive Psyche entwickelt. Sowohl Reichardt als auch Pukhovytskiy machen aus ihrer Sympathie kein Hehl: »Die Deutschen sagen: nie wieder Täter. Die Israelis: nie wieder Opfer. Das ist kompliziert, doch zu verstehen.« 1993 wanderte Pukhovytskiys Sohn Konstantin nach Israel aus. Konstantin war damals 14. Ein Rabbi aus den USA war nach Dnjepropetrowsk gekommen, neues jüdisches Leben erwacht, Konstantin hatte begonnen, sich für seine Wurzeln zu interessieren. Er habe eine israelische Schule besucht, in der Armee gedient, Wirtschaft studiert. Israel sei nun sein Mutterland, wie Pukhovytskiy es formuliert, obwohl es jetzt auch in Dnjepropetrowsk wieder eine schöne Synagoge gäbe. Warum ist Mark Pukhovytskiy dann nicht in Dnjepropetrowks geblieben? Er sagt: »Wegen meiner beiden jüngeren Kinder. Sie hatten dort keine Perspektive.« Und wieso ist er seinem ältesten Sohn nicht nach Israel gefolgt, was doch nahe gelegen hätte? »Nun, wie soll ich sagen«, erklärt er, »wir sind europäische Leute. Israel ist ein orientalisches Land, unser Rhythmus passte nicht. Wir entschieden uns für das westliche Leben.« Mark Pukhovytskiy hatte die Wahl. Zum ersten Mal in seinem Leben. Er traf sie für seine Tochter Olga und den jetzt 18-jährigen Oleg. »Meine Frau und ich sind alt. Für uns ist die Zukunft nicht mehr so wichtig. Aber Olga und Oleg können hier jeden Weg gehen, den sie möchten.« Beide hätten schnell deutsch sprechen gelernt, leichter und besser als ihre Eltern. Wer sich nun angesichts türkischer Kinder, die sich in den Vierteln Berlins der deutschen Sprache verweigern, wundert, der wird von Pukhovytskiy erinnert: Juden besäßen mehr Erfahrung als Türken, sich zu assimilieren. Darauf hätten wir auch selbst kommen können. Sein Sohn Oleg jedenfalls besucht heute das Gymnasium. Olga studiert Wirtschaftsinformatik. In Leipzig: Das sei das Problem der Erfurter jüdischen Gemeinde - mit dem Studium zögen die Jungen weg, zurück blieben nur Ältere. Auch Elena Reichardt gehört der jüdischen Gemeinde nicht an. Sie darf es nicht, sie ist keine halachische Jüdin. Dennoch hole sie jetzt nach, was sie in ihrer Heimat versäumte - mit ihrer jüdischen Identität im Einklang zu leben. Das kann nun auch Mark Pukhovytskiy. Auch deshalb zieht es ihn fast täglich in das Büro von »Via shalom«, auch wenn er angehalten ist, es von innen abzuschließen. Nicht, weil sie sich vor Übergriffen deutscher Rechtsradikaler fürchten müssten, sondern weil jüdische Einrichtungen als mögliche Terrorziele gelten. Unmittelbar in der Nachbarschaft liegt die Kleine Synagoge mit Thora-Schrein, Betsaal und Frauenempore sowie dem rituellen Bad, der Mikwe. 1840 entstanden, wurde die Kleine Synagoge 1998 zum 60. Jahrestag der Pogromnacht als Begegnungsstätte wieder eröffnet. Ihr Förderverein übernahm vor zwei Jahren die Trägerschaft von »Via shalom«, so dass Pukhovytskiy schon deshalb oft in der Synagoge zu tun hat. Er ist gern dort, er freut sich darüber, dass auch in der Stadt, in der er jetzt lebt, wieder jüdisches Leben entsteht... Demnächst wird sein Aufenthalt in Deutschland ins achte Jahr gehen. Dann kann er beantragen, deutscher Staatsbürger zu werden und das, so es genehmigt wird, in seinen Pass eintragen lassen. Wahrscheinlich wird er das auch tun. Doch nein, obwohl er sich frei fühle, weil es seine Nachbarn nicht interessiert, ob er Jude ist oder nicht - als Deutscher empfinde er sich nicht. »Ich bin ukrainischer Jude«, sagt er. Was nicht nach einem glücklichen Ausgang der Geschichte klingt. Nicht nach uneingeschränkter Dankbarkeit, die er Gorbatschow entgegenbringt. Eine Leistung wäre gewesen, wenn der es vermocht hätte, Menschen wie den Pukhovytzkiys daheim eine Zukunft zu geben. Das hat er nicht. Für uns ist es gut so. Wir lernen die Pukhovytskiys kennen. Und wer eine Rechnung aufmachen will: Die in Deutschland heranwachsenden jüdischen Wissenschaftler, Wirtschaftsmanager und Künstler werden nicht mehr eine Liste von GUS-Preisträgern schmücken, sondern bei uns Leistungen erbringen. Angesichts der hiesigen dramatisch fehlbesetzten Eliten so etwas wie ein Hoffnungsschimmer.

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