Schlacht gewonnen, Krieg verloren
Rußlands Truppen ziehen ab - in eine umgeschriebene Weltgeschichte
Von KLAUS J. HERRMANN, Moskau
Boris Nikolajewitsch „gewann die Schlacht um Berlin faktisch kampflos“, jubilierte die Komsomolskaja Prawda, Sie glaubte am Rhein wahrhaftig ein „Remis ohne Endspiel“ ausgemacht zu haben. Kohl hätte in der Berlin-Frage „ritterlich“ nachgegeben, sei aber „unbeugsam“ gegen die gemeinsame Verabschiedung aller Alliierten aufgetreten. Damit sah selbst die eigentlich zu schärferem Blick verpflichtete Armeezeitung Krasnaja Swesda - zu deutsch übrigens immer noch „Roter Stern“ - einen „Schatten von den russischdeutschen Beziehungen vertrieben“
Ein unwürdiger weltpolitischer und -historischer Klamauk auf der Bühne des Bonner Provinztheaters fand damit sogar bei den gnadenlos mit der Klatsche Geprügelten einiges Jauchzen und Frohlocken. Kohl ging mit dem indiskuta-
blen Weimar als billiger Lusche in das Spiel, offerierte das selbstverständliche Minimum Berlin als Höchsteinsatz und machte den letzten Stich mit dem entscheidenden As. War die Aufsplitterung der Alliierten im zweiten Weltkrieg nicht gelungen, so doch wenigstens Jahrzehnte danach.
„Die UdSSR, deren Rechtsnachfolger Rußland ist“, so merkte die liberale Sewodnja nachdenklich an, „war Mitglied der Antihitlerkoalition und der Status ihrer Streitkräfte in einer der vier Besatzungszonen unterschied sich juristisch in nichts vom Status der amerikanischen, britischen und französischen Kontingente“ Seine Rolle hätte sich zwar im Kalten Krieg verändert, doch auch in jenen Jahren sei Moskau ein Garant des europäischen Friedens gewesen.
Am Verhandlungstisch
saßen zudem nicht die in dieser Frage wirklich zuständigen Staaten, sondern ein deutscher
Kanzler - und der wollte eben nicht den angemessenen und würdigen gemeinsamen Abschied der Siegermächte. Lasche Duldung offenkundigen Unrechts zeichnete die Haltung der Westmächte diesmal aus. Bei nächster Gelegenheit könnten sie dafür schon bestraft werden. Dann fordert Deutschland vielleicht nicht nur Sitz im Weltsicherheitsrat, sondern gleich noch Platz am Siegertisch und in Siegesparaden.
Darin besteht der wirkliche Erfolg des Bonner Kanzlers und das wichtigste Ergebnis der Plaudereien mit seinem russischen Saunakumpel. Geschrieben, umgeschrieben wurde nicht nur deutsche, sondern Weltgeschichte. Nach dem „kleinen Bahnhof für den inzwischen vielfach als „Okkupant“ verunglimpften Triumphator über den deutschen Aggressor, folgt der „große Bahnhof für dessen nun als „Schutzmächte“ gepriesenen ehemaligen Verbündeten im
Kampf gegen das faschistische Deutschland. Wer griff wen an, wer okkupierte was, wer schützte wen vor wem?
„Dem Siegervolk wurde der Sieg gestohlen“, erkannte wenigstens die oppositionelle Sowjetskaja Rossija. Bereits zuvor prophezeite der Moskauer Kommersant daily richtig: „Der besiegte Kreditgeber diktiert die Bedingungen der Parade der Sieger.“ In diesem Sinne hat Jelzin in Bonn vielleicht die Schlacht um Berlin gewonnen, in jedem Fall aber den Krieg um die historische Wahrheit gegen Deutschlands Kanzler Kohl verloren - wenn er ihn hätte überhaupt führen wollen. Das freilich wäre seinerzeit keinem Gorbatschow anzubieten gewesen und keinem Breshnew oder Chrustschow, einem Stalin schon gar nicht. Mit Jelzin ist das offenkundig etwas anderes, der macht aus jeder Schlappe noch einen Vormarsch in neue Zeiten.
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