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Zielscheibe: Kurdische Intellektuelle

Während die NATO-Partner in Bonn konferierten, ging Lice in Flammen auf Von CHRISTIAN ANSLINGER

  • Lesedauer: 4 Min.

ND-Karte: Wolfgang Wegener

Vor dem türkischen Konsulat an Berlins Kurfürstendamm floß am Mittwoch Blut. Zwar nur symbolisch, doch die vom AStA der Freien Universität organisierte Aktion erinnerte an den Alltag im Folterstaat Türkei. Wenn deutsche Politiker am 20. Juli dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime huldigten, so die Studenten, müsse auch „heute gegen national-rassistische“ Staaten Widerstand geleistet werden. „Die Bundesregierung tut das Gegenteil, sie macht sich zur Erfüllungsgehilfin der türkischen Regierung, indem sie Waffen für den Völkermord liefert“.

Der Empfang des türkischen Generalstabschefs Dogan Güres einen Tag zuvor beim Generalinspekteur der Bundeswehr, Friedrich Naumann, bestätigte aufs neue die freundschaftlichen Beziehungen der beiden NATO-Ärmeen. Noch im Frühjahr hatte der ranghöchste türkische Militär wieder einmal angekündigt, die Kurdenfrage zu „lösen“ Jetzt, kurz vor seiner im August bevorstehenden Pensionierung, konsultierte Güres den Bündnispartner wohl zum letzten Mal.

Am gleichen Tag, als die beiden Generäle miteinander konferierten, setzten türkische Spezialeinheiten die kurdische Stadt Lice in Brand und schössen von Hubschraubern aus auf alles, was sich bewegte. Bereits im Oktober letzten Jahres hatten türkische Truppen die im Osten des Landes gelegene Stadt nahezu völlig zerstört. Diesmal legten sie über 300 Häuser in Schutt und Asche. Die Zahl der Toten und Verwundeten ist noch nicht bekannt.

Doch auch im Westen der Türkei ist die von Bundesinnenminister Kanther immer wieder behauptete Sicherheit

für Kurden keineswegs gegeben. In Istanbul gilt die Pressefreiheit für kritische Journalisten schon lange nicht mehr - nach einer entsprechenden Ankündigung von Ministerpräsidentin Ciller bekämpft das türkische Regime insbesondere kurdische Intellektuelle mit allen Mitteln, Folter, „Verschwindenlassen“ und Mord inbegriffen.

So wurden in der Nacht vom 8. auf den 9 Juli der kurdische Verleger und Journalist Recep Marasli vom Komal-Verlag und 11 weitere Personen von der berüchtigten „Anti-Terror-Abteilung“ der Polizei in Istanbul inhaftiert. Drei der Festgenommenen stehen der kurdischen Monatszeitung Sterka Rizgari nahe, deren dritte Auflage im Komal-Verlag gerade in Druck gehen sollte.

Marasli, der Leiter des auf kurdische Themen spezialisierten Verlages, wird schon seit 1972 wegen seiner Veröffentlichungen verfolgt. So wurde er von 1982 an neun Jahre lang im berüchtigten Militärgefängnis von Diyarbakir eingekerkert. Infolge der langjährigen Haft und der vielen Folterungen, denen er ausgesetzt

war, leidet Marasli u. a. an Gleichgewichtsstörungen.

Jetzt dauerte es fünf lange Tage, bis ein Rechtsanwalt nach massivem internationalem Druck die Gefangenen in Istanbul endlich sehen durfte. Recep Marasli, Murat Satik und dessen Frau Bahriye Satik seien mit Elektroschocks und Schlägen auf die Fußsohlen gefoltert worden, berichtet der Anwalt. Der 28jährigen Nurcan Balci brach man Bein-und Hüftknochen, sodaß sie ins Koma fiel und in einem Krankenhaus am 13. Juli operiert werden mußte. Anschließend wurde sie wieder zur „Anti-Terror-Abteilung“ verschleppt. Außerdem sitzen noch Nuran Camli, Orhan Ates, Erdgül Kiyak und vier nicht namentlich bekannte Personen ein.

Alle Verhafteten befinden sich in Lebensgefahr, denn die Anträge des Anwalts an Polizei und Staatsanwaltschaft blieben unbeantwortet. Nicht einmal die Festnahmen wurden bestätigt. Deshalb ist die Gefahr, daß die Polizei die Ver-

j hafteten „verschwinden“ läßt, sehr groß. Die Gefangenen befinden sich im Hungerstreik und lehnen sogar Flüssigkeit aus Protest gegen ihre Inhaftierung ab. Zwar ist nach ihren \ngaben die Folter wegen der Proteste des Menschenrechtsvereins und internationaler Organisationen im Augenblick eingestellt, doch alle Gefangenen sind schon sehr entkräftet.

Außerdem wurden auch wichtige Dokumente und Manuskripte des Komal-Verlages beschlagnahmt. Es besteht die Gefahr, daß diese wichtigen Schriften zur armenischen und kurdischen Geschichte, Politik und Kultur von den türkischen Behörden unwiederbringlich vernichtet werden. Die Artikel für die Zeitschrift Sterka Rizgari wurden ebenfalls konfisziert. Das Unterdrücken dieser Publikationen scheint der eigentliche Sinn der Festnahmen in der . nach Innenminister Kanther angeblich sicheren „Westtürkei“ zu sein.

Der AStA der FU bittet um Protestschreiben an: Minister oj Justice. Mr Seyfl Oktay, Ministry of Justice. Adalet Bakanligi, 06659 Ankara, Turkey. Fax: 0090312-426 40 66. Kopien bitte an: Kanzlei der Botschaft der Republik Türkei. Utestraße 47, 53179 Bonn. Fnr- 022X-34RP.

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