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Tanz den Sozialismus

In der Ruhrmetropole Essen werden seit 80 Jahren Gymnastiklehrerinnen nach der ganzheitlichen Bewegungspädagogik von Dore Jacobs ausgebildet / www.dore-jacobs.de

  • Michael Haering
  • Lesedauer: 7 Min.
Freiwerden und schlagen, wie so ein Samurai-Kämpfer«, ruft die Ausbilderin im Fach Bewegungsbildung den Studentinnen der Dore-Jacobs-Schule zu. Dabei zieht Dzidra Mikelsons die Vokale - wie an der Ruhr üblich - etwas länger als im Rest der Republik. Ihre Stimme hallt durch die Mehrzweckhalle der zum Sport- und Kulturzentrum umgebauten Zeche Helene im Essener Arbeiterviertel Altenessen. 19 Studentinnen und zwei Studenten der Oberstufe im Alter von 19 bis 35 Jahren schwingen etwa einen Meter lange Holzstäbe durch den Raum, so dass man hoffen muss, dass sie sie fest im Griff haben. »Keine Angst vor der eigenen Kraft, und den Schwung immer von unten holen - auch im Denken«, fasst sie die ganzheitliche Bewegungslehre der vor 25 Jahren (am 5.3.1979) verstorbenen Dore Jacobs zusammen. Oleg Zhukow hat gerade als einer der wenigen Männer die Ausbildung zum Gymnastiklehrer/Bewegungspädagogen beendet. Der 23-jährige Duisburger ist in Odessa aufgewachsen und steht bereits als Schauspieler auf der Bühne des Stadttheaters im benachbarten Oberhausen. In seiner Freizeit betreut er Jugendliche in Mühlheim/Ruhr. »Was ich hier gelernt habe, ist vor allem Haltung und Eigenverantwortung.« Man forsche insgesamt drei Jahre lang an der eigenen Bewegung, am physischen und seelischen Kontakt zur Außenwelt. Das beginne beim Kontakt der Füße zum Fußboden und führe letztlich auch ins Politische. »Politik heißt, der Welt zu begegnen, in Kontakt mit ihr zu sein«, fasst Oleg die ganzheitliche Philosophie der Schule zusammen. Die junge Leiterin des Berufskollegs, Annette Kamp, räumt ein, dass nicht alle Schüler so weit entwickelt seien wie Oleg. Das hänge damit zusammen, dass nicht wenige Schülerinnen mit Bildern von Fernsehsendern wie Viva im Kopf herkommen. Sie wollen so sexy tanzen wie die Sängerin Shakira. »Wie aber komme ich dazu, meine eigenen inneren Bilder zu entwickeln, wenn alle Sinne durch Medien zugeknallt werden?«, fragt die Diplom-Politologin. Die Autofahrt von der neuen Ausbildungsstätte Zeche Helene zum alten Stammhaus der ehemaligen »Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung« gleicht einer Reise in die Vergangenheit. Am Ende eines lichtdurchfluteten Tanzsaales des ganz aus Holz gebauten Blockhauses stehen Utensilien für Körper- und Bewegungsarbeit wie Stöcke, Keulen und Gymnastikbälle um ein Klavier herumgruppiert. Erst in diesem geschichtsträchtigen Raum lässt sich der Ursprung einer Bewegungslehre erahnen, die aus der kulturrevolutionären Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg hervorging. Dore Jacobs hatte das zweistöckige Gebäude mit Unterstützung des »Bund. Gemeinschaft für sozialistisches Leben« auf einem waldigen Hügel bauen lassen. Heute steht es, zwischen Ein- und Zweifamilienhäusern eingekeilt, inmitten des bürgerlichen Ortsteils Essen-Stattwald. Obwohl das 1927 fertig gestellte Blockhaus heute vornehmlich für die Verwaltung der Schule genutzt wird, werden Erinnerungen lebendig an eine Zeit, als hier Juden vor der Verfolgung durch die Gestapo versteckt wurden, eine Tatsache, die bis heute kaum gewürdigt worden ist. Zusammen mit ihrem Ehemann, dem reformpädagogisch engagierten Gymnasiallehrer und Kantforscher Arthur Jacobs, gründete die 1894 geborene Dore Debohra Marcus 1924 den aus der Essener Volkshochschulbewegung entstandenen Bund. Anders als die linken Parteien der Weimarer Republik strebte der bis zu 200 Mitglieder zählende Bund eine Lebensreform an, die den Menschen nicht nur wirtschaftlich befreien sollte. Während zur gleichen Zeit Freikorps ihre militärisch gedrillten »Körperpanzer« (Klaus Theweleit) für den kommenden Faschismus stählten, arbeiteten hier Linke verschiedenster Couleur daran, sich für eine freie und sinnliche Lebenswelt zu befreien. Darin liegt der demokratisch-libertäre Charakter von ganzheitlichen Bewegungslehren, wie sie in den 20er Jahren weite Verbreitung fanden. Schon damals lebten Bundmitglieder in Wohngemeinschaften und kommuneartigen Bundhäusern. Frauen wurden nicht mehr als Anhängsel ihres Mannes, sondern als Kameradinnen betrachtet. Während die Führer der Parteien sich gegenseitig bekämpften, gingen hier Arbeiter und Intellektuelle zusammen auf Wanderschaft und übersprangen im Alltag Klassenschranken. Dennoch galt es unter den Bundmitgliedern als Konsens, dass man sich in einer der sozialistischen Parteien politisch engagierte. (In einem Gästeraum im ersten Stock des Gebäudes weist die langjährige Leiterin der Schule Karin Gerhard auf ein Plakat, auf dem die Rückenansicht eines braungebrannten Fischers abgebildet ist. In einer eleganten Drehung seines muskulösen Oberkörpers wirft er ein Fischernetz ins glitzernde Meer. Zu ihren Gästen soll Ellen Jungbluth, eine ehemalige Lehrerin, gerne gesagt haben: »Ich habe mir immer gewünscht, dass sich der Fischer einmal umdreht, um mich anzuschauen.« Gerhard erzählt diese Geschichte mit einem Lächeln auf den Lippen, als enthülle sie eine Intimität unter Frauen. Der in sich ruhende Fischer drückt in seiner naturhaften Körperlichkeit die romantische Sehnsucht des selbstentfremdeten Zivilisationsmenschen aus.) Dore Jacobs hatte nicht zuletzt durch ihren Kontakt mit Arbeitern des Ruhrgebiets die Erfahrung gemacht, dass die Industriegesellschaft den naturhaften Kreislauf zwischen Körper, Geist und Seele zerstöre. Ihn wiederzugewinnen ist die Aufgabe ihrer Bewegungsarbeit, die sie auf der Grundlage der Methode des international renommierten Schweizer Rhythmik-Professors Emile Jacques-Dalcroze in den frühen 20er Jahren entwickelte. Bei ihm hatte sie neben dem Studium der Mathematik und Physik an der TU Dresden von 1912 bis 1914 in Dresden-Hellerau Rhythmik studiert. Dore Jacobs war die Tochter eines jüdischen Amtsrichters und eine jugendbewegte Zionistin. Nach der Schließung der Schule durch die Nationalsozialisten im Jahr 1934 konnte sie nur noch in der Illegalität weiterarbeiten. Arthur Jacobs erkannte als intellektueller Kopf des Bundes schnell den Antisemitismus als Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Sein politischer Leitspruch war folgerichtig: »Aus der Reserve treten und die Isolation der Juden durchbrechen.« Doch nach der Machtergreifung musste er selbst für einige Monate untertauchen, weil ihm Kontakte zu Kommunisten vorgeworfen wurden. Der Bund unterstützte Menschen auf der Flucht, gewährte Unterschlupf und verhalf ihnen außer Landes zu kommen. Als die spätere Leiterin Lisa Jacob 1942 auf einer Deportationsliste stand, tauchte sie in den Untergrund ab und wurde drei Jahre lang von Bundesgenossen in ganz Deutschland unterstützt. Insgesamt rettete der Bund deutschlandweit nachweislich mindestens acht Jüdinnen vor dem Zugriff der Nationalsozialisten, darunter Dore Jacobs. Erst nach ihrem Tod wurde die ehemalige »Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung« unter der Leitung von Karin Gerhard in den 80er Jahren in Dore-Jacobs-Schule umbenannt. Seit zwei Jahren ist sie ein staatlich anerkanntes zweizügiges Berufskolleg, auf dem die mehrheitlich weiblichen Schüler den Abschluss Gymnastiklehrer/Bewegungspädagogin machen können und nebenbei die Fachhochschulreife erhalten. Zurück in der Zeche Helene, summt ein leises »Ahhh« durch den lichtdurchfluteten Gymnastikraum unter dem Dach des Kulturzentrums. Die 22 Frauen der Unterstufenklasse steigen nach etwa fünfminütigem Wippen von ihren Tennisbällen herunter. Sie gehen jetzt wie auf Federn über den beheizten Parkettboden und werden sich mit den Worten der Lehrerin im Schulfach »Körperbildung« ihrer Füße, Beine, Becken und Schultern bewusst. »Es fließt von unten die Bewegung in die Arme hinein. Wie bei einem Baum fließt es immer von unten nach oben«, begleitet Karin Gerhard mit einer tiefen, ruhigen Stimme die Bewegungen der Schülerinnen. Die graumelierte Nachfolgerin von Dore Jacobs hat die Schule über 30 Jahre lang geleitet. Sie hat alle erdenklichen Fortbildungen absolviert und kann die zukünftigen Gymnastiklehrerinnen auch nach anderen Bewegungsschulen wie Gindler und Qi Gong unterrichten. Aber auch moderne Fitnesssportarten werden aufgegriffen und zur Weiterbildung empfohlen, allein schon, damit die Schüler auf dem Arbeitsmarkt als Gymnastiklehrer bestehen. Aber jenseits aller Trendsportarten gibt es etwas, was im Jargon der Dore-Jacobs-Schule Innenbewegung genannt wird. Ein wenig wie beim fernöstlichen Tao gehe es um das Tun im Nicht-Tun, um das Lassen ohne zu Wollen und um den »Atem als Brücke zwischen Seele und Körper«, so Karin Gerhard. Nicht umsonst sei in frühen Jahren das Yin- und Yang-Zeichen Symbol der Schule gewesen. Heute gehört Dore Jacobs zur Avantgarde eines ganzheitlichen Körper- und Bewegungsverständnisses, wie es erst seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Lehren wie Feldenkrais, Yoga oder Qi Gong breitenwirksam geworden ist. Ihre Lehre vermittelt bis heute eine zweckfreie, spielerische Selbsterfahrung als Voraussetzung für ein ganzheitliches Denken. Kontakt: www.dore-jacobs.de. Bewerbungen zum nächsten Schuljahr sind noch möglich!

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