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  • Kultur
  • ORB: „Bertram“ - ein mißglückter Versuch, jemandem seine Biographie zu erzählen

Die Schwierigkeit, einander zu verstehen

  • PETER HOFF
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Donnerstagabend (19.50 Uhr) startete der ORB „Bertram“, eine Talkshow der besonderen Art, benannt nach Lutz Bertram, „Frühstücksdifektor“ des Brandenburger Hörfunkprogramms, Moderator der besten Morgensendung des nordostdeutschen Sendegebietes. Bertram ist die ostdeutsche Kodderschnauze, der respektlose Interviewer, der bei seinen Gesprächspartnern so hartnäckig mit Fragen nachsetzte, bis die schillernden Redeblasen der abgebrühtesten Politprofis platzten, wenn er sie an der Wirklichkeit maß; ein Graus für die Waigel & Co.

Bertram kommt aus der guten Schule von „DT 64“ (wo er noch nicht moderieren durfte) und ist in den wenigen Jahren des Ostdeutschen Rundfunks zu einer Institution geworden. Deshalb bekam er während des Bundestagswahlkampfes des Vorjahres eine Fernsehreihe übertragen, „Schlagabtausch“, und der glatzköpfige Mann mit der dunklen Brille demontierte auch hier klug

und elegant aufgeblasene Politfunktionäre.

„Bertram“, die neue Sendereihe, sollte Menschen mit ungewöhnlichen Ansichten vorstellen, die mit ihren Erfahrungen anderen helfen können. Zwei Tage später, am Samstagabend, saß Bertram in „seinem“ Studio Matthias Greffrath und Christoph Singeinstein gegenüber. Gegenstand der Sondersendung „Zur Sache“: Lutz Bertram. Der Intendant des ORB hatte den freien Mitarbeiter wie die festangestellten durch die Gauck-Behörde überprüfen lassen. Das Ergebnis: Bertram war Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gewesen. Die Leitung des Brandenburger Senders bot Bertram daraufhin an, er könne noch ein Jahr als Moderator arbeiten und werde dann still aus dem Verkehr gezogen. Bertram lehnte ab und tat statt dessen den Schritt in die Öffentlichkeit., Seinen Zuhörern und Zuschauern sollte die Entscheidung überlassen

werden, wie sie sich zu ihm und seiner Biographie stellen. Seit Abwicklung der „Einrichtung“, des im Herbst 1989 revolutionierten DDR-Rundfunks und -Fernsehens, habe ich keine so bewegende Sendung

Denn hier redeten drei Menschen mehr als neunzig Minuten aneinander vorbei, unfähig, einander zu verstehen oder sich einander verständlich zu machen. Greffrath und Singeinstein konnten die Gründe nicht begreifen, die Bertram seinerzeit zu seiner Entscheidung motivierten und die ihn über Jahre zum Schweigen veranlaßten. Sie attackierten den Kollegen mit wohlfeilen Rezepten aus dem reichen Schatz der inzwischen gewachsenen Vorurteile, und er vermochte seinerseits ihre Fragen nicht zu beantworten, die aus einer Fülle von Graustufungen nur Schwarz oder Weiß gelten lassen wollten. Daß einem verzweifelten DDR-Bürger nicht notwendig die evangelische Kirche als Zuflucht gelten, daß er die Alternative zu seinem ungeliebten Staat nicht unbedingt in der Bundesrepublik sehen mußte - das wollte ihnen nicht einleuchten. Ebensowenig wie der Umstand, daß einem Menschen, der mit den Problemen seiner

möglichen Schuld seit Jahren selbstquälerisch ringt wie Lutz Bertram, nicht mit dem christlichen System von Beichte und Buße geholfen ist, sondern daß er seine Schuld abarbeiten willund sich dafür das Gebiet wählt, auf dem er sich nach besten Kräften einbringen kann.

In seinem journalistischen Wirken hat Lutz Bertram in den vergangenen Jahren wahrhaftig „Trauerarbeit“ geleistet. Er hat Politiker öffentlich zur Rede gestellt, um zu verhindern, daß Politik wieder ausschließlich eine Sache der „Führung“ wird wie in der DDR. Er hat damit mehr für die Entwicklung eines Demokratiebewußtseins im Osten Deutschlands geleistet als die Vorzeigedemokraten, die sich jetzt über ihn zu Goricht setzen. Eine öffentliche Respektsbekundung in dieser Zeitung wird Lutz Bertram sicherlich nicht förderlich sein. Ich kann sie ihm dennoch nicht versagen.

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