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Der Krieg vereinfacht die Sprache
Zwei neue Anthologien mit historischer Literatur aus der Ukraine, als sie noch sowjetisch war
Jahrzehnte waren ukrainische Schriftsteller*innen eine literaturhistorisch vernachlässigte Gruppe; nicht nur im Rest von Europa, sondern auch in der Ukraine selbst. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine änderte sich das, und der Reichtum und die Vielfalt dieser europäischen Literatur wird nicht im Land selbst und auch in anderen Sprachen wahrgenommen. Das gilt nicht nur für die Gegenwartsliteratur: Zwei Anthologien zeichnen die äußerst produktiven Jahren zwischen den Kriegen nach, vor allem jene kurze Phase, in der die sowjetische Zentralregierung in Moskau eine ukrainische Kultur nicht nur duldete, sondern sogar ausdrücklich begrüßte: eine Haltung, die dann später in grausame Feindschaft umschlagen sollte.
Wie sehr diese unruhigen Zeiten von vergangenen und aufkommenden Kriegen die Schicksale ukrainischer Dichter*innen prägten, davon erzählt unter anderem die Anthologie »Dichtung der Verdammten«. Sie versammelt Werke der Neoklassiker, einer kleinen Gruppe rund um Maksym Ryl’s’kyj und Oswald Burghardt, der oft unter dem Namen Jurij Klen veröffentlichte.
Die Neoklassiker waren einer schöngeistigen, ja schwärmerischen europäischen Literatur verpflichtet, die sich in eine fast schon metaphysische poetische Ferne träumte: immer wieder scheinen die fernen Landschaften des Languedoc oder die Stadtsilhouette Venedigs auf, immer wieder leuchtet das antike Griechenland durch die Verse. Der gedrängten Enge ihrer eigenen Zeit, bis auf wenige Jahre von Krieg, Vertreibung und Gefängnis geprägt, entkamen sie durch diese Träume, die nicht politisch waren, aber politisch gemacht wurden.
Als Ende der Zwanzigerjahre die Bolschewiki unter Stalin begannen, die verschiedenen nationalen Kulturen zu unterdrücken, wurde auch der kleine Kreis der Neoklassiker Opfer staatlicher Repression: drei starben in sibirischen Gulags, Oswald Burghardt emigrierte nach Deutschland, und nur Ryl’s’kyj passte sich an und dichtete fortan Loblieder auf Stalin. Ihr Verbrechen war einzig, sich als ukrainische Vertreter einer europäischen Kultur zu begreifen. Beinahe wären sie deswegen Unbekannte geblieben, aber schlussendlich behielt Pawlo Fylypowytsch doch recht, als er schrieb: »Der Tod rafft dich hinweg und was dir lieb / nur deiner Lieder Saat wird blühn und sprießen.«
Die Texte in »Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung« sind auch deswegen heute so interessant, weil dies eine von Kriegsmythen und -erzählungen gesättigte Zeit ist.
Weniger verträumt, sondern im Gegenteil ganz auf die Zeit des Ersten Weltkrieges fokussiert ist die Anthologie »Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung«. Sie versammelt Gedichte und kurze Erzählungen aus diesem Krieg, der in der Ukraine über 1918 hinausdauerte: Bis 1920 war die Ukraine Hauptschauplatz des russischen Bürgerkrieges und bis 1922 kam es zu verschiedenen Aufständen. Schätzungsweise zehn Millionen Opfer forderte dieser Krieg nach dem Kriege.
Davon erzählt dieses Buch, und als Leitfaden dient ihm Iwan Baschanskyis Tagebuch. Baschanskyi war Lehrer in Wawschkiwzi, einem Dorf in der nördlichen Bukowina. In einer nüchternen, zurückhaltenden, naiven Prosa hält er fest, wie das Weltgeschehen immer wieder über Wawschkiwzi hinwegrollt und auch wie dieser Krieg, der zunächst die Gedanken und Albträume aller beherrscht, nach und nach zu einem – wenn auch grauenhaften – Alltag wird. Serhij Zadan konstatiert in seinem Essay über die damaligen und den heutigen Krieg: »An den Tod gewöhnt man sich nicht, aber seine Gegenwart erscheint nicht mehr so unnatürlich.«
Das Buch umkreist diese Gegenwart aus verschiedenen Perspektiven: es ist nach Themen sortiert, es geht etwa um Gefangenschaft, um Flucht, das Leben im Hinterland, aber auch darum, wie die moderne ukrainische Nation zu sich selbst fand. Es ist bei aller Aktualität vieler der Texte auch ein Beitrag zur Revision eines Geschichtsbildes des Ersten Weltkrieges, der nach wie vor mit dem Stellungsgemetzel bei Verdun, Ypres oder dem Chemin des Dames assoziiert wird. Dass dieser Krieg in Osteuropa ganz anders aussah, ist selbst in aktuellen Gesamtdarstellungen häufig nicht mehr als eine Fußnote.
Eine Frage, die sich diesem Buch stellt und die auch heute noch hochaktuell ist, ist jene: Wie über den Krieg schreiben, wie über ihn sprechen? Denn der Krieg, schreibt Zadan in seinem Essay, »vereinfacht die Sprache. Die verdichtete Präsenz von Angst und Tod verleitet zu einer vereinfachten Sprache, zu einer Befehls- und Plakatsprache«. Und das ist nicht nur ein Problem, das die Produktion von Literatur betrifft, denn: »Krieg zerstört auch die Fähigkeit, zuzuhören und zu verstehen.«
Manche der Geschichten reflektieren diese verarmte Verdichtung der Sprache, bis von den berichteten Geschehnissen nur noch die Knochen übrigbleiben. Walerian Pidmohylnyj beschreibt in »Die dritte Revolution« die Eroberung einer Stadt durch Nestor Machnos anarchistische Partisanenarmee; es ist der 14. Machtwechsel seit Beginn des Krieges in der Stadt. Ksana kommt vom Dorf und ist in die Stadt geflohen, denn »in dem Dorf, wo sie gelebt hatten, schienen die Kämpfe noch viel schrecklicher gewesen zu sein. Ihr Mann hatte sie geküsst, und sie hatte dennoch große Angst. Damals fragt sie: ›Was machen wir, wenn Machno kommt?‹ Er lachte und antwortete: ›Ich werde seine Kämpfer kurieren.‹ Machno war gekommen und hatte ihren Mann erschossen. Nachts irgendwo hinter dem Dorf.« Und mehr gibt es zum Tod dieses Mannes nicht mehr zu sagen. Die Verarmung der Sprache folgt der Verarmung der Empfindungen. Ksanas Onkel Petrowytsch erzählt später davon, dass er früher die grünen lebendigen Bäume so sehr liebte, inzwischen aber liebt er die vertrockneten, weil sie besser brennen.
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Die Texte in »Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung« sind auch deswegen heute so interessant, weil dies eine von Kriegsmythen und -erzählungen gesättigte Zeit ist. Jede Woche erscheint ein neues Kriegsepos, eine neue Heldengeschichte in den Kinos und den Streamingdiensten. Auch wenn inzwischen häufiger versucht wird, nicht allzu überkandidelt einen Hochglanzheroismus hervorzukehren, klingen diese Erzählungen völlig anders als diese Geschichten, denen das Ringen um eine Sprache und einen Sinn aus den Zeilen tropft.
Es sind – ganz anders als die feingliedrigen, eskapistisch-verträumten Verse der Neoklassiker – in der Mehrzahl rohe, ungehobelte, unziselierte Texte, in denen obendrein oft eines fehlt: Hoffnung auf Normalität. Und das, obwohl die meisten der Texte erst nach dem Ende des Bürgerkriegs veröffentlicht wurden, als es für eine kurze Weile eine Art kulturellen Frieden in der Ukraine gab; als hätten die Dämonen des Krieges erst, nachdem die Waffen ruhten, ihre volle Macht entfaltet; als käme nach dem Ringen um die Existenz erst das volle Ausmaß des Horrors ans Licht.
Wohl auch, weil der Friede und die Ruhe so brüchig waren. Viele der Autor*innen wurden ab Ende der Zwanzigerjahre unter Stalin ermordet, Walerian Pidmohylnyj etwa wurde 1937 im Gulag erschossen, wie so viele seiner Kolleg*innen, was eine ganz neue, düstere Schule der ukrainischen Literatur begründete: die Rosstriljane widrodschennja, die erschossene Renaissance, der erst – eine traurige Pointe – ein neuer Krieg zur Wiederentdeckung verhalf.
Natalia Kotenko-Vusatiuk / Andrii Portnov (Hg.): Dichtung der Verdammten. Arco, 176 S., br., 11,99 €.
Kati Brunner, Claudia Dathe, Beatrix Kersten (Hg): Ein Hauch von Grauen und verborgene Hoffnung. Arco, 544 S., br., 26 €.
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