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»Forschen, worauf man Lust hat – und viel schlafen!«
Ein Gespräch mit Übersetzer*in Lisa Jay Jeschke über Shola von Reinholds Roman »LOTE« und das kritische Potenzial der Extravaganz
Sie haben den Roman »LOTE« von Shola von Reinhold aus dem Englischen übersetzt. Darin geht es um die junge Schwarze Geistesarbeiterin Mathilda Adamarola und die historische Schwarze Dichterin Hermia Druitt. Die beiden trennt zwar ein Jahrhundert, aber sie verbindet auch jede Menge, oder? Können Sie uns die Protagonistinnen kurz vorstellen?
Mathilda lebt in der Londoner Jetztzeit, betreibt als marginalisierte Person außerhalb und entgegen der Institutionen auf eigene Faust Archivrecherchen zu ihren sogenannten Transzinationen: queeren Personen aus der Geschichte, mit denen sie eine so tiefe, trans-historische Verbundenheit fühlt, dass ihr im besten Sinn ein Schauer über den Rücken läuft. Eine dieser Transzinationen ist Hermia Druitt, eine Schwarze Dichterin aus dem britischen Modernismus. Tatsächlich gab es sie nicht, es handelt sich um eine Fiktion des Romans – aber was heißt das schon? Vielleicht gab es sie eben doch oder jemanden wie sie. Der Roman stellt die Frage nach der vergessenen Präsenz Schwarzer Menschen und insbesondere Künstler*innen in Europa in den letzten Jahrhunderten. Die Lücken in der Geschichtsschreibung versucht der Roman spekulativ, fiktional und fragmenthaft zu füllen.
Lisa Jay Jeschke ist Übersetzer*in aus dem Englischen und Lyriker*in und lebt nach langem Aufenthalt in Großbritannien in München. Jeschke interessiert sich für Lyrik als Subkultur, Spracharbeit und Ort, der allen offensteht, die eine Pause brauchen. Letzte Lyrik-Veröffentlichung: (Critical Documents, London 2024).
Nun wird Mathilda ihre Arbeit nicht gerade leicht gemacht: Gleich zu Beginn des Buchs will der Pförtner sie erst mal gar nicht in das Archiv – ihren Arbeitsplatz – lassen, weil sie seines Erachtens nicht aussieht wie jemand, der*die in so einen Ort gehört. Sie wirkt auf ihn zu exzentrisch in ihrer Erscheinung. Welche Rolle spielen exzentrisches Auftreten, exzentrische Kleidung im Roman?
Eine große Rolle! Mathilda und Hermia kleiden sich exzentrisch. Und immer wieder wird darauf hingewiesen, dass das eine Transgression ist, die Schwarzen Menschen eigentlich nicht erlaubt ist. Um es so zu sagen: Was für die weiße Aristokratie als »exzentrisch« Anerkennung findet, wird bei Schwarzen Menschen schnell als »Wahnsinn« abgewertet. Auch in einem erweiterten Sinn sind für den Roman detaillierte und schwelgerische Beschreibungen von Mode, Frisuren, Innenauskleidung, Architektur wichtig. Denn die westliche Geistesgeschichte von Platon über Hegel bis zum Modernismus von Adolf Loos hat immer wieder Ornament, Exzess und Spiel als bloße Dekoration gewertet und zudem misogyn mit Femininität verbunden und entwertet. Dagegen setzt der Roman eine Feier der Oberfläche, auch von Schönheit und Luxus – eine Wiederaneignung aus einer prekären Position heraus.
Um bei der von Ihnen genannten Beschreibungskunst zu bleiben: Sie schreiben selbst Lyrik auf Deutsch und auf Englisch und haben Erfahrung im Übersetzen von Gedichten. Welche Herausforderungen ergaben sich für Sie bei der Übersetzung von »LOTE«? Standen Sie in Kontakt mit der Autorin?
Erst mal gibt es relativ viele Überschneidungen zwischen unseren Interessen, und zwar darin, wie sich Feminismus auch über die Form artikulieren lässt, am Schreiben aus einer trans Position heraus, vielleicht an einem trans-ästhetischen Anti-Kapitalismus, und most importantly, wir sind beide Fans von queeren britischen Modernismen! Andererseits war es auch wieder gut, dass wir in unterschiedlichen Genres schreiben, ich eben nicht einfach mein Schreiben drüberstülpen konnte, sondern die Sache mit Respekt für die Distanzen zwischen uns angegangen bin. Das betrifft auch die Tatsache, dass ich keine Person of Colour bin. Also so ein sorgsames Navigieren zwischen Nähe und Distanz und dann auch zwischen Autonomie – als Vertrauen gedacht – und Übersetzen als kollektiver Arbeit. Mit Shola war ich in Kontakt und wir haben uns am Ende noch zu einigen Fragen ausgetauscht. Genauso war die Zusammenarbeit mit meinem Lektor Utku Mogultay und dem Verlag wichtig. So als Pollesch-Echo: Ja, niemand arbeitet allein!
Gehen wir noch mal zurück auf Anfang, bleiben aber in der Produktion: Der Titel »LOTE« ist ein Akronym. Mögen Sie es kurz ausbuchstabieren? Und auch ein paar Schlaglichter auf die Handlung werfen? Der Roman spielt ja unter anderem in einer Künstler*innenresidenz – solche Literaturproduktionsorte finden gar nicht so oft in der Literatur selbst Beachtung.
Der Roman beschäftigt sich selbst die ganze Zeit damit, was dieses mysteriöse Akronym »LOTE« bedeuten könnte, das macht auch Spaß, die verschiedenen Windungen dazu zu verfolgen. Aber verkürzt: Mathilda findet heraus, dass Hermia eine Zeit lang in einem unbestimmt kontinentaleuropäischen Ort namens Dun lebte und dort gemeinsam mit anderen Verehrer*innen von Ästhetik und Dekadenz einer Geheimgesellschaft namens LOTE angehörte. Ich merke gerade, zur genauen Bedeutung müsste ich so lange ausholen, dass das einen ganzen Artikel wert wäre – diese Puzzlearbeit würde ich also gerne den Leser*innen überlassen!
Jedenfalls ist es so, dass Mathilda bei ihren Recherchen zu Hermia auf eine aktuelle Residency in Dun stößt, sich dort kurzerhand bewirbt und angenommen wird. Sie hat zwar keine Ahnung, um was es geht, da sie aber pleite ist, fährt sie in dieses Städtchen. Dabei wird immer wieder eine Haltung betont, nach der sie das Stipendium auch irgendwie ausnutzt, im Sinne von: Kulturförderung nehmen, das Minimum der offiziellen Bedingungen erfüllen, dazu forschen, worauf man Lust hat – und viel schlafen!
Die schottische Autorin Shola von Reinhold leistet sich gegenüber dem biederen Literaturbetrieb auch einige sympathische Extravaganzen: »Shola von Reinhold« ist vermutlich nicht ihr Passname, als Geburtsdatum gibt sie 1892 an, behauptet, 100 Jahre beim Bolschoi-Ballett getanzt zu haben. Dieses Spiel mit der Biografie ist vielleicht auch eine queere Kritik an der Selbstverständlichkeit, dass viele junge Autor*innen aus Professionalitäsdruck als Biografie ihre Auszeichnungen aufzählen, die immergleichen Studiengänge angeben, letztlich hinter Markern verschwinden, die nur bedeuten: Diese Person ist sehr qualifiziert.
Ja, insofern kann ich gar nicht viel mehr zu Shola von Reinhold sagen – oder will ich nicht, weil das gegenläufig genau zu dieser Setzung wäre! Diese Verweigerung einer festen bürgerlichen Identität kommt im Roman selbst über das Konzept der sogenannten Eskapade rein: Mehrere Protagonist*innen wechseln aus unterschiedlichen Gründen immer wieder den Namen und das komplette soziale Umfeld, versuchen sich ganz aus einer vor-determinierten Biografie zu befreien. Da spielen queere Logiken eine Rolle, aber auch Klassenfragen – und es wird immer wieder verhandelt, wie fast-unmöglich es ist, eine Eskapade durchzuziehen. Aber nur fast, denn andererseits bilden sich dann auch immer wieder Solidaritäten, sich gegenseitig dabei zu unterstützen. Ja, das hatte ich noch gar nicht so bewusst realisiert: dass es auch ein Roman der Freundschaft ist – Kompliz*innen!
Shola von Reinhold: LOTE. A. d. Englischen v. Lisa Jay Jeschke. Merve, 456 S., br., 25 €.
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