Huntsville Rocket City der USA
»Standortvorteil« der Stadt ist die langfristigePräsenz der Rüstungsindustrie
Gründungsvater Wernher von Braun
Wer vom Flughafen oder von einem der Highways aus in Richtung Zentrum fährt, kommt unweigerlich ins Stutzen. Denn das höchste Bauwerk ist keineswegs ein Geschäftsturm oder, wie in vielen anderen Städten der USA, ein »financial district« mit glitzernden, aufragenden Banken, sondern eine weiße Rakete mit dem Logo »USA«: eine mehr als 120 Meter hohe Nachbildung der berühmten Mondrakete »Saturn 5«, die im Juli 1969 die Mannschaft der »Apollo 11« auf den Mond brachte. Man kennt die Bilder aus dem Fernsehen.
Mit dem Prunkstück ist der Name eines Deutschen verbunden, dessen Mythos sich von Huntsville aus verbreitete: Wernher von Braun. »Es war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Huntsville in eine Hightech-Oase verwandelte«, hieß es in einem typisch apologetischen CNN-Bericht vor zweieinhalb Jahren. »Die USA wollten ihr Raketenprogramm weiterentwickeln. Und nach dem Zusammenbruch Nazi-Deutschlands lockten sie ein Team deutscher Raketenwissenschaftler, geführt von Wernher von Braun, über den Atlantik. Die deutschen Raketenexperten, die die V-2-Raketen entwickelten, die Zerstörung über Großbritannien gebracht hatten, ließen sich 1950 in Huntsville nieder. Dort entwickelten sie den Raketenantrieb der "Saturn 5", die die Apollo-Astronauten auf den Mond schossen.«
Von Braun, 1977 in den USA verstorben, gilt den Huntsvillern als legendärer Gründungsvater ihres Wirtschaftsstandortes. Straßen sind nach ihm benannt, ebenso ein Kulturzentrum. Wer darauf verweist, dass Hitlers Hoffnung, in Peenemünde würde der SS-Mann die Geheimwaffe zur Niederringung der Welt vollenden, mit dem Tod von 20 000 KZ-Häftlingen bezahlt wurde und dass von Braun von deren miserablen Arbeitsbedingungen zumindest gewusst haben muss, der erhält in Huntsville die Antwort, der Ingenieur von Braun habe nur seinen Traum verwirklichen wollen - den bemannten Flug ins Weltall. »Von Brauns Präsenz überzeugte viele Unternehmer, sich in Huntsville niederzulassen«, liest sich das Ganze reichlich bereinigt im CNN-Bericht.
Und tatsächlich: Der Ort im nördlichen Alabama unweit der Grenze zu Tennessee hat sich zum Hightech-Standort gemausert. Er beherbergt den zweitgrößten Industriepark der USA mit mehr als 700 Firmen. Dazu zählen neben den Schwergewichten der Autoindustrie die Produzenten von Massenvernichtungswaffen: die Großen der USA-Rüstungsindustrie.
Wer sich als ausländischer Journalist in das »Redstone Arsenal« begibt, befindet sich auf Militärgebiet. Die Sicherheitsüberprüfung des Besuchers hat bereits Tage vorher mit der Ausweiskontrolle begonnen, wird mit der Durchsuchung des Fahrzeugs und der Aushändigung eines Sonderausweises »foreign national« fortgesetzt und mündet in einer Militäreskorte. Das »Redstone Arsenal« zieht sich kilometerweit durch die Landschaft, ist mit annähernd 20 000 Angestellten der größte Brötchengeber in weitem Umkreis und eines der Hochsicherheitsgebiete auf USA-Territorium. Seit mehr als 40 Jahren dient es als Zentrale der Armee für Raketenprogramme.
Waffensysteme »recht niedlich«
Bei AMCOM (U.S. Army Aviation and Missile Command), dem Luftfahrt- und Raketenkommando der Armee, geht es um Forschung, Entwicklung, Tests, Verkauf und Wartung von amerikanischen Hightech-Waffensystemen. Zu sehen ist davon freilich nichts. Besucher werden in hoher Geschwindigkeit auf Landstraßen befördert. Auf Lichtungen neben Waldstücken und Wiesen erstrecken sich ausgedehnte, einstöckige Gebäude. Nur die Firmennamen an den Eingängen weisen darauf hin, dass es hier um nichts anderes als Waffensysteme geht: »Raytheon« - »Boeing« - »Lockheed Martin« Die Militärs verfügen auf dem Arsenal außerdem über einen eigenen Flughafen. Staatliche Waffenhändler aus der ganzen Welt landen und starten hier - unbeobachtet und fernab öffentlicher Kontrolle.
Journalistentermin beim Leiter der »Security Assistance«, Dr. Eugene E. Paro: Im dunkelblauen Anzug erläutert der Mittsechziger, welche Waffensysteme im »Redstone Arsenal« en vogue sind: die »Patriot«-Abwehr, etliche Hubschrauber wie »Apache« oder »Cobra« oder die »Stinger«-Raketen. Ob er wisse, auf welchen Umwegen diese Raketen zum Abschuss von Flugzeugen in den 80er Jahren bei den islamischen Fundamentalisten in Afghanistan landeten, lautet eine Frage. Genervt entgegnet Mr. Paro, man verhandle hier nur mit staatlichen Akteuren. Außerdem habe damals Kalter Krieg geherrscht. Die Arroganz der Macht, blank ins Gesicht gesprungen.
Ein Untergebener Paros in Uniform, der die AMCOM-Kommandostruktur am Diaprojektor erläutert, lässt nebenbei mit süffisantem Lächeln die Bemerkung »pretty neat« (recht niedlich) fallen, als er die neuesten Forschungsprojekte und ihre Zerstörungskraft andeutet. Er spricht davon, als handelte es sich um Babys.
Inhaltlich sind die Termine im »Redstone Arsenal« unergiebig. Die deutsche Bundeswehr ist angeblich in zwei Abteilungen vertreten, es soll auf dem Gelände sogar einen Lebensmittelladen mit deutschen Produkten geben. Doch die Erkundungstour für Presseleute ist von der Handelskammer Huntsville und vom Militär vorgeplant und lässt keine Ausnahmen zu.
»Krieg bedeutet Arbeitsplätze«
»Across America, War means Jobs« (Überall in den USA bedeutet Krieg Arbeitsplätze) hatte die »Washington Post« Mitte Mai über den kurzfristigen Wirtschaftsboom berichtet. Die gestiegene Nachfrage nach Militärausrüstungen rette nicht wenige Ortschaften in den USA vor dem Sterben. Ein »beträchtlicher Teil« der 708 000 neuen Arbeitsplätze, so die Zeitung, die in den vergangenen drei Monaten entstanden sind, seien auf den Rüstungsboom zurückzuführen, vor allem im Bereich Wartung, Reparaturen, Armeekleidung und Fahrzeuge. 16 Prozent des US-amerikanischen Wachstums im selben Zeitraum sei Aufträgen im Rüstungsbereich zu verdanken.
Die Gesamtausgaben für Rüstung: 537,4 Milliarden Dollar, eine Steigerung von 15,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 191 Milliarden Dollar hätten die USA allein seit dem 11. September 2001 für die Kriege in Afghanistan und in Irak ausgegeben, heißt es im jüngsten Bericht des Weißen Hauses.
Die kurzfristigen Ergebnisse des Aufschwungs in der Kriegswirtschaft der USA werden in der Tat am klarsten in den vernachlässigten Ortschaften des Landes deutlich, die mit Aufträgen aus dem Pentagon »gesegnet« sind. Huntsville ist strukturell dagegen ein trauriger Glücksfall. Ob Bush oder Kerry, ob Krieg oder Frieden - was hier seit Jahrzehnten zählt, ist der Standortvorteil, und der bedeutet: langfristige Präsenz der Rüstungsindustrie.
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