Russische Studenten und Studentinnen haben klare Vorstellungen hinsichtlich der Frage »Wann ist der Mann ein Mann?«. Es herrscht weitgehend Konsens über das ideale Mannesbild: Schön, klug und reich muss ER sein. Dem in Russland zu entsprechen, ist aber angesichts der wirtschaftliche Situation des Landes beinahe unmöglich.
Anton ist 21 Jahre alt und im vierten Studienjahr. Er studiert Germanistik in Rostow-am-Don, im nächsten Jahr wird er sein Studium beenden. Dann muss er sich einen Job suchen. Übersetzer werden in der südrussischen Millionenstadt kaum gebraucht. Als Hochschuldozent etwa würde er sich mit einem Einstiegsgehalt von gut 1000 Rubeln (etwas mehr als 30 Euro) durchschlagen müssen. Eigentlich macht ihm das Unterrichten während seiner Praktika Spaß. Aber bei dem Hungerlohn wäre der Job höchstens eine vorübergehende Notlösung. In der Hoffnung auf bessere Chancen entschied er sich für ein Zweit- und Fernstudium an einer Moskauer Privatuniversität für Wirtschaft und Management. Aber in der 12-Millionen-Stadt leben will er nicht. Sein Taschengeld verdient Anton also in den Semesterferien. Regelmäßig jobbt er auf einem Schiff, wo er vor allem deutschen Rentnern die Sehenswürdigkeiten entlang der Wolga erklärt. So bleibt wenig Zeit , um an die Zukunft zu denken. Vielleicht ließe sich mit seinem Know-How später eine Tourismusfirma gründen, überlegt er und lächelt etwas verlegen. Er weiß selber, bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ein harter noch dazu.
»Verlässlichkeit, Klugheit, physische, aber auch seelische Kraft« sind wichtig, um das Leben in den Griff zu kriegen, meint Anton. Das ist die Theorie. In der Praxis aber ist vor allem eins entscheidend - Geld zu verdienen. Das Ansehen eine Mannes steigt mit der Höhe seines Einkommens. Klassische Männerberufe - und davon gibt es in Russland viele - werden schlichtweg besser bezahlt. Der Durchschnittslohn liegt außerhalb der beiden großen russischen Zentren Moskau und Petersburg bei rund 100 bis 200 Euro im Monat. Für Akademikerinnen sind 150 Euro schon ein gutes Gehalt. Männer können als Manager, Ingenieur oder Pilot das Doppelte oder mehr verdienen. Anton meint: »Ein richtiger Mann braucht seine Überlegenheit nicht zu beweisen«. Soll heißen, er ist einfach überlegen. Dass Männer und Frauen über eine unterschiedliche Logik verfügen, ist auch für den 17-jährigen Wirtschaftsstudenten Andrej Tschernow keine Frage. Wichtige Eigenschaften eines Mannes sind nach seiner Vorstellung Ehre, Kühnheit und Selbstständigkeit. Klar, nicht jeder Mann in Russland entspricht diesem Ideal - überlegt Andrej. Alkoholiker und Banditen, die ihr Geld durch schmutzige Geschäfte verdienen, das seien Typen, die einfach nur schnell reich werden wollen.
Aber genau hier liegt das Problem: denn legal in Russland reich zu werden, ist fast unmöglich. Der Druck aber, als Mann auch Frau und Familie versorgen zu können, ist ungeheuer groß. Die Sehnsucht der Frauen, einem »charmanten und höflichen« Mann zu begegnen, meint nichts anderes, als dass er sich großzügig und lebenspraktisch zeigt, dass er eine Familie ernähren kann und den täglichen Existenzkampf besteht.
Die 18-jährige Journalistik-Studentin Lisa Borsenko gehört zu den besten ihres Jahrgangs. Sie studiert in der Regel sechs Tage in der Woche, schreibt in ihrer knappen Freizeit Artikel über lokale und soziale Themen, außerdem spricht Lisa hervorragend Deutsch. Zielstrebig bewirbt sie sich für Stipendien und Praktika im Ausland, bei den Prüfungsergebnissen schlägt sie mühelos ihre wenigen männlichen Konkurrenten. Journalistik ist, wie alle geisteswissenschaftlichen Fächer, ein typisches Frauenstudium. Das bedeutet in der Regel einen durchschnittlichen Anteil weiblicher Studenten von 85 Prozent. »Das hat sich geschichtlich so ergeben. Frauen sind in diesen Fächern begabter, Männer können besser logisch denken«, glaubt auch die Musterstudentin. »Klar, es gibt viele Männer, die keine Business-Woman mögen. Aber mich stört das nicht. Ich möchte eine schwache Frau sein, nicht eine, die alles selber macht.«
Männer und Frauen sehen sich nicht als Opfer des Geschlechterkampfes. Die Rollen sind erkennbar verteilt. Ein Blick auf den Campus: Die Masse der Männer ist schwarz, mit viel Leder - eher sportlich gekleidet. Die Frauen staksen beinahe durchgängig mit Highheels nicht unter acht Zentimetern durch die Korridore der Fakultäten, sind oft stark geschminkt, und nicht selten erscheinen sie in Gewändern, als sei die heutige Vorlesung ein ganz besonders feierlicher Anlass.
Russische Studenten sind im Durchschnitt zwischen 17 und 22 Jahre alt. Gleich nach Abschluss der 10. Klasse beginnt für rund ein Viertel der Teenager eine Hochschulausbildung. Anwesenheitspflicht, ein straffer Stundenplan und ständige Prüfungen erinnern eher an die Atmosphäre in einer Schule. Wenn Professoren und Dozenten über die Studenten sprechen, reden sie von den »Djeti« - Kindern. Fast alle Studenten leben zu Hause bei ihren Eltern, eine eigene Wohnung würde zwischen 50 und 150 Euro im Monat kosten. Nur die aus den Dörfern wohnen in den schäbigen Studentenwohnheimen, wo ein Bett im winzigen Doppelzimmer für 50 Rubel (1,50 Euro) zu haben ist. Das monatliche, staatliche Stipendium von 497 Rubeln (14 Euro) reicht gerade für einen Abend in einem angesagten Studentenclub.
Auch die behüteten Studenten sind aber schon mit harten Realitäten konfrontiert, die sie frühzeitig zu Überlegungen und Entscheidungen zwingen, mit denen man sich in Westeuropa vermutlich gerne rund zehn Jahre später befasst: Wie kann man dem zweijährigen, nicht risikolosen Armeedienst entgehen (in der Regel durch Bestechung der Behörden), wie lassen sich Kontakte schmieden, um nach dem Studium einen guten Job zu finden? Dennoch ist für die meisten Studenten ein Leben, das sie ausschließlich der Karriere widmen, unvorstellbar: »Eine Familie ist mir wichtiger als eine Karriere«, meint die erfolgsorientierte Journalistik-Studentin Lisa. »Eisenharte Frauen leben oft ohne eine Partnerschaft. Leider.«
»Nicht einmal im Leben verheiratet zu sein gilt für einen Mann in Russland als Schande« meint Marina (20), Germanistikstudentin im vierten Studienjahr. Ein unverheiratetes Paar wird in den wenigsten Familien geduldet, eher schweigend ignoriert. Der Gang zum Standesamt mit der ersten großen Liebe ist also keine Seltenheit. Dass auch eine Familie samt Kindern zum Leben gehört, ist keine Frage. »Mein zukünftiger Mann soll klug sein und genug Geld verdienen. Ich will zwei Kinder und ein gutes Leben.«, schwärmt Marina. Sie selber träumt von einer Professur, von einer eigenen Karriere und einem Mann, der sie dabei nicht aufhält. »Die meisten Männer heiraten, um gepflegt, gewaschen und gefüttert zu werden. Mit Arbeiten im Haushalt sind die meisten doch - auch die jungen Typen - überfordert. Aber ich sehe mich aber nicht als künftige Putzfrau.«
Immerhin rund 40 Prozent aller Kinder werden von Noch-Studentinnen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren geboren. Junge Eltern können jedoch kaum Hilfe vom Staat erwarten. Einmalig erhalten sie 4500 Rubel (rund 130 Euro) Familiengeld. Allein Arztbesuche und die Hebamme kosten ein Vielfaches. Die Hochschulen überweisen in den ersten anderthalb Jahren monatlich 500 Rubel (14 Euro) Kindergeld - bei oftmals vergleichbaren Preisen wie in Deutschland für Miete, Essen, Kleidung usw. müssen also in der Regel die Familien einspringen. Eine Folge des wirtschaftlichen Risikos, das eine Familie birgt, ist allerdings auch in Russland ein dramatischer Rückgang der Geburten. So ergibt sich eine Kluft aus Wunsch und Wirklichkeit, die um ein vielfaches verschärfter ist als in Westeuropa, und dennoch erstaunlich wenig Kritik hervorruft.
Andrej, der 17-jährige Wirtschaftsstudent, weiß: »Das Leben wird kompliziert.«. Aber er sieht in seiner künftigen Rolle auch etwas Positives: »Mädchen sind schön und fleißig. Viele wollen natürlich einfach nur früh heiraten, am besten einen reichen Mann. Aber mich stört das nicht. Denn das sind alles Klischees. Und mich betreffen die nicht.« Wie gesagt, Andrej ist 17. Wie die meisten Studenten lebt er noch zu Hause bei seinen Eltern. Und noch ahnt er nur, was es in Russland heißt, sein Geld für sich und eine ganze Familie zu verdienen. Noch glaubt er nicht, dass Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut oder Alkoholismus etwas mit seinem Leben zu tun haben werden. »Wsjo budjet« - Alles wird schon! - meint Andrej lächelnd. Es ist das russische Lebensprinzip - für Männer und Frauen.