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„Wenn der ökonomische Hebel nicht wirkt, kann nur das Wort wirken“

FU-Studie über Wirtschaftsführung der DDR interpretiert NÖS als „begrenzte Reform“ und schreibt Primat der Politik Verantwortlichkeit für das Scheitern zu

  • Lesedauer: 6 Min.

Von FRITZ FIEHLER

„Was uns nicht gelang,“ gibt Prof. Dr. Helmut Koziolek in der von Theo Pirker u. a. herausgegebenen Studie „Der Plan als Befehl und Fiktion“ über die DDR zu bedenken, „war wirklich die Verbindung einer modernen Planwirtschaft mit - wenn Sie so wollen - einem ökonomischen Regulativ.“ Ist damit das Problem der DDR-Wirtschaft benannt? Wurde in der Periode des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖS) darum gerungen?

Die vorgelegte Studie lohnt aus zwei Gründen: Mit den Gesprächsprotokollen liegen authentische Zeitzeugnisse vor, und für die Analysen wurden bisher nicht zugängliche Quellen über das wirtschaftliche Ende der DDR ausgewertet.

Gesprochen wurde mit Günter Mittag (Sekretär für Wirtschaft des ZK der SED), Prof. Dr. Claus Krömke (Referent von Mittag), Dr. Gerhard Schürer (Vorsitzender der Staatlichen Plankommission), Siegfried Wenzel (stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommisssion), Harry

Tisch (Vorsitzender des FDGB), Dr. Alexander Schalck-Golodkowski (Leiter der Kommerziellen Koordinierung), Wolfgang Rauchfuß (Minister für Materialwirtschaft), Dr. Günther Wyschofsky (Minister für Chemische Industrie), Dr. Wolfgang Biermann (General-

direktor des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena), Christa Bertag (Generaldirektorin des VEB Kosmetik-Kombinats Berlin) und Prof. Dr. Helmut Koziolek (Direktor des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung). Die Gespräche fanden zwischen Februar 1993 und Mai 1994 statt. Die Studie wurde im Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin von Prof. Theo Pirker, Prof. M. Rainer, Rainer Weinert und Hans-Hermann Hertle erstellt.

Lauscht man in die Gespräche hinein und pickt sich das eine oder andere heraus, dann tritt einem zunächst das Phänomen „Günter Mittag“ entgegen. „Mittag wurde 1976 Sekretär für Wirtschaftspolitik im ZK und hat alle Macht mitgenommen. Er hat den Ministerrat total entmachtet,“ erzählt Wolfgang Rauchfuß. „Mittag

baute ein Regime auf, mit dem er in jedes Ministerium und in jedes Kombinat hineinregierte oder hineinregieren ließ.“ Wollte man dieses Regime charakterisieren, dann wäre es ohne die wirtschaftspolitische Inkompetenz des Politbüros nicht denkbar. „Wenn Sie sich einmal die Zusammensetzung des Politbüros anschauen,“ klagt Christa Bertag, „war da niemand, der von Wirtschaft Ahnung hatte, keiner.“ Noch entscheidender für die Machtstellung Mittags ist die Teilung der Wirtschaft in einen planmäßigen und einen schwarz/ grauen Kreislauf.

Während dieser zweite Kreislauf in den anderen staatssozialistischen Ländern mehr oder weniger sich selbst überlassen war, erhielt er über die Kommerzielle Koordination (Koko) eine regulierte Form. Beide Kreisläufe liefen somit im „Mittag-Regime“ zusammen. „Unsere Kombinate haben dadurch jedoch ein Stück Marktwirtschaft gelernt.“ Günther Wyschofsky erläutert: „Dort mußten unsere Leute rechnen lernen, aber für zwei Rechnungen: eine für Schürer, die nichts taugte und nichts zu taugen brauchte - das nehme ich Schürer so übel, daß

die nichts zu taugen brauchte - und eine für Schalck.“ Und schließlich war Mittag derjenige, der die auseinanderstrebenden Interessen patriarchalisch zusammenhielt. „Wenn der ökonomische Hebel nicht wirkt,“ erklärt Günter Mittag, „kann nur das Wort wirken.“

Das entscheidende Argument bietet Claus Krömke, der schildert, wie das Administrative des Plans nicht von der Verhandlungsseite zu trennen ist. Der Rücklauf für den Plan

Angst vor den Folgen einer Änderung der Preise. „Honeckers Standpunkt war,“ berichtet Schürer, „alle Erschütterungen in den sozialistischen Ländern haben mit Preisänderungen begonnen, in Polen, Ungarn und in der CSSR.“ Honecker habe es nicht gewagt, fügt Krömke hinzu, auch nur das Geringste zu ändern. „Und der größte Widerstand gegen die Preise war im eigenen Funktionärsapparat.“

Unübersehbar wird, wie die Verzerrung der Einzelverbraucherpreise (EVP) und der Zuwachs der nichtproduktiven Bereiche der DDR zu einer bösartigen Symbiose geworden sind. Dennoch beschreibt das nur die Last, die wuchs, und nicht die Triebkräfte, die erlahmen mußten. Die Autoren der Studie, die im politischen Primat den Konstruktionsfehler des Sozialismus sehen wollen, fühlen sich bestätigt, wenn sie sehen, wie die Kostenökonomie, die dem Profit entrissen war, unter politische Zwänge geriet. „Es ist aus der Stalinschen Industrialisierungsidee des absoluten Bringens von Erfolgen nach dem Prinzip: Koste es, was es wolle, entwickelt worden...“ erklärt sich Krömke das Problem. „Was uns gräm-

te, klagt Bertag, „war, daß wir alles abgeführt haben, und jede Investition wieder neu erbettelt werden mußte.“

Über diese Schilderungen wird den Beteiligten die Ära der Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik immer mehr zum Problem, wodurch NÖS erneute Aufmerksamkeit erhält. Das wirft wiederum die Frage auf, wie es zum Abbruch dieses Systems hatte kommen können. Das ist das dritte Phänomen. „Und das Neue Ökonomische System hatte schon eine marktwirtschaftliche Orientierung. Ich will nicht soweit gehen,“ reflektiert Krömke, „daß es die Einführung der Marktwirtschaft bedeutet hätte, aber es hatte eine marktwirtschaftliche Orientierung. Das heißt, es war eigentlich eine wirtschaftliche Öffnung, und logischerweise geht die wirtschaftliche Öffnung auch mit einer politischen Öffnung einher.“ Für die westliche Sichtweise überhaupt, aber auch für den (spät- )östlichen Rückblick müssen dabei Bild und Rolle Ulbrichts miteinander in Konflikt geraten. „Ulb-.richt war nicht für Erstarrung, er war für Bewegung, er war für Dynamik, auf wirtschaftlichem und auch auf politischem

Gebiet, heißt es bei Krömke. Und er bescheinigt Ulbricht, daß dieser gemerkt habe, „allein mit Agitation und Propaganda ist die Schlacht nicht zu gewinnen.“ Tisch gibt zu: „Ich würde aus der heutigen Sicht sagen, daß die Kritik an Ulbricht nicht richtig gewesen ist.“

Für die verschiedenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeptionen schält sich aber als Konstante heraus, wie sich der vorliegende Typus der Planwirtschaft durch einen voluntaristischen Zug auszeichnete. Schürer erinnert an das Stalin-Wort: „Die Pläne sind nicht die Summe der Rechnungen, sondern die Pläne sind die Aktivität der Menschen.“ Entsprechend habe Honecker in einer schwierigen Planungsdiskussion gesagt: „Paßt mal auf, darum braucht ihr euch gar nicht zu kümmern, wir werden die Arbeiter mobilisieren. Wenn wir ihnen sagen, ihr kriegt jährlich vier Prozent mehr Nettogeldeinnahmen, also Löhne, dann werden die auch mehr leisten, ihr müßt daran glauben.“

Theo Pirker u. a.: Der Plan als Befehl und Fiktion, Westdeutscher Verlag, Opladen 1995, 384 Seiten, 48,00 DM

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