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  • Politik
  • Eigenproduktion zum 10jährigen Bestehen: „Oidipus“ im Theaterforum Kreuzberg

In der Schlinge der Verantwortung

  • Lesedauer: 3 Min.

Foto: Marcus Lieberenz

Die Oidipus-Figur, der arme, geprüfte Dichter Sophokles feiert von jeher fröhliche Urstände in der freien Theaterszene. Um zu klären, warum sich das gerade in letzter Zeit häuft, müßte man Psychodoktor Freud aus dem Grab buddeln. Ohne seine Unterstützung stehen wir den wahren Hintergründen der Oidipus-Serie hilflos gegenüber und sind dem Terror der Ergebnisse schutzlos ausgeliefert. Auch das Theaterforum Kreuzberg schont weder sich noch uns und bringt anläßlich seines 10jährigen Bestehens die Eigenproduktion „Oidipus“, einen wahrhaft dramatischen Festakt, unter die ahnungslosen Leute.

Die Bühne ist eine Arena, ein Kampfplatz, dessen Ästhetik zwischen künstlicher und natürlicher Sakralität umhertaumelt. Der Horizont ist verbaut vom Palast des Oidipus, symbolträchtig schwarz verhangen, nur Aus- und Eingang gleißen im Licht. Der Platz des Volkes und des Schauspiels ist von Sand, verweist auf die Wüste, die innere Leere und Verkommenheit - die von Machtgier. Der Thron ist ein Stein - von ähnlicher Bedeutung wie im Märchen von den sieben Geißlein -, der sich Oidipus um den Hals legt und ihn in den Abgrund zu ziehen droht, nicht ohne, daß einiges Volk dabei fröhlich mittut, um sich selbst aus der Schlinge der Verantwortung zu ziehen. Gott hab sie selig, die Nachgeborenen.

Die Sophokles-Version des Theaterforums beginnt mit der Rückkehr des Kreon vom delphischen Orakel nach Theben. Er, der Freund und Vertraute des Königs Oidipus, hat den schicksalhaften Spruch vernommen, der Theben retten soll von zahlreichem Ungemach. Oidipus, noch ganz unschuldiger Herrscher, verordnet dessen sofortige Verkündung vor dem Volk und spricht das gnadenlose Urteil, das über den kommen soll, der den angeprangerten Frevel verübte: Der Mörder des alten Königs und Beischläfer der eigenen Mutter soll sofort getötet werden. Aber, so heldenhaft sich Oidipus auch gebärdet, von den heroischen Charakterzügen und der Weisheit des einstmaligen Erlösers Thebens aus den Fängen der Sphinx, ist nichts mehr zu bemerken. Die Macht hat ihre Spuren tief in ihn gegraben, unveränderbar scheint es.

Doch der Held wäre kein Held, würde er sich nicht über alle Makel und Eigendünkeleien erheben und im Bösen schließlich des Guten ansichtig werden, ist es auch noch so fadenscheinig. Nach einigem Hin und Her, nach Selbstbetrug, den üblichen Intrigen bei Hofe und der zwiespältigen Speichelleckerei der Untergebenen, die nur zu gern am Honigtopf der Macht schlekken und dieses Privileg unter allen Umständen erhalten wissen wollen, erkennt Oidipus in sich selbst den Schuldigen. Der Vatermörder, gefangen in der eigenen fanatisch-religiösen Hörigkeit und der des Volkes, blendet sich zur Sühne selbst.

Die Macht schließt nun endgültig die Augen vor der Welt, ist gegenüber allem und jedem blind. Die Blendung schließt das reine Vergessen in sich und Vergessen ist das Privileg der Herrscher Nur sie können sich von der Geschichte befreien. Die Selbstblendung des Oidipus ist eher eine Erhebung als eine Strafe, ist der legitimierte Aufstieg in die Himmel der absoluten Macht. Und ob sich die Götter nach einer solchen Bußgroteske Theben wohlgesonnener zeigen werden, ist zu bezweifeln, es

sei denn, die Götter sind vom selben Schlag und das ist anzunehmen.

Bei aller politischen Brisanz, die gelegentlich aufflackert, bei aller Stimmigkeit mancher Metapher und Allegorie, ist die Inszenierung eine theatralische Katastrophe, ein Drama der Form mehr als ein Drama nach seinem Inhalt. Schauspielerinnen und Regie langweilen mit absoluter spielerischer Inkompetenz und Einfallslosigkeit. Daß man nicht einschläft, liegt ausschließlich an der dramatisch-hysterischen Lautstärke des Textvortrages. Und der hat sogar seine ungewollt grotesken Seiten, weil manchem und mancher gelegentlich die Stimme kollabiert. Der einzige theatralische Moment ist wohl die Ankunft des Boten aus Korinth. Dafür jedoch lohnt es nicht, ins Theater zu gehen.

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