Gibt es heute den schnellsten 10000-m-Lauf der Geschichte?

Äthiopier Kenenisa Bekele könnte seinen eigenen Weltrekord brechen, und Haile Gebrselassie kündigt schon mal an: »Er wird mein Thronfolger«

Heute Abend könnte die Welt-Leichtathletik eine Sternstunde erleben: Denn im 10000-m-Finale der Männer, für das 29 Läufer gemeldet sind, wird auf einen neuen Weltrekord spekuliert. Und der Mann, der am ehesten in der Lage ist, für eine neue Superzeit zu sorgen, ist der bisherige Weltrekordler Kenenisa Bekele. Der 22-jährige Äthiopier ist in dieser olympischen Saison schon zwei Weltrekorde gelaufen - und das innerhalb von acht Tagen: erst im niederländischen Hengelo über 5000m mit 12:37,35 min und dann in Ostrava über 10000 m mit 26:20,31 min. In beiden Fällen löste Bekele seinen Landsmann Haile Gebrselassie ab, der seit sechs Jahren die Weltrekorde auf diesen langen Laufstrecken mit 12:39,36 min über 5000 m und 26:22,75 min über 10 000 m gehalten hatte. Diese Zeiten schienen für lange Zeit fast unangreifbar und bestenfalls von Gebrselassie selbst zu unterbieten. Das trug ihm auch den Ruf eines »Wunderläufers« ein. Nun aber fand Gebrselassie mit dem schmächtigen Bekele (nur 1,60 m groß und 54 kg schwer) einen Nachfolger, der im Stande ist, in völlig neue Regionen vorzustoßen. Der neun Jahre ältere entthronte Fabel-Weltrekordläufer Gebrselassie erkennt das auch neidlos an und prophezeite schon vor einiger Zeit: »Bekele wird mein Thronfolger.« Im Athener Olympiastadion treffen die beiden äthiopischen Langstreckenstars heute über 10 000 m direkt aufeinander. Und wenn es nicht zu einem übermäßigen taktischen Geplänkel kommt, sollte am Ende tatsächlich ein neuer Weltrekord herausspringen. Allerdings: Bekele hat seit seinem Rekordlauf von Ostrava Achillessehnen-Probleme, von denen keiner so recht weiß, wie schwerwiegend sie sind. Er hat seit dem Lauf vom 8. Juni keine Wettkämpfe mehr bestritten und hatte sich zurückgezogen, um sich in Äthiopien auf Olympia vorzubereiten. Da sich Bekele nach endlosen Gesprächen mit dem nationalen Leichtathletik-Verband und seinem Trainer überreden ließ, in Athen einen olympischen Doppelstart zu wagen und am vorletzten Tage der Spiele auch über 5000m mitzumachen, ist natürlich eine Verlockung groß. Die Verlockung nämlich, auf den beiden längsten Bahndistanzen zu Olympiasiegen zu gelangen. Dieses Kunststück war zuletzt 1980 in Moskau Miruts Yifter gelungen - einem Äthiopier. Für Bekele, der erst zwei Jahre danach das Licht der Welt erblickte, ist es eine ungeheure Motivation, seinem Landsmann Yifter nachzueifern. Vor Yifter hatte es in der olympischen Leichtathletik-Geschichte nur noch vier Läufer gegeben, denen dieser Doppelpack geglückt war: zwei Mal dem Finnen Lasse Viren (1972 und 1976), dem Russen Wladimir Kuz (1956), dem Tschechen Emil Zatopek (1952) und dem Finnen Hannes Kolehmainen (1912). Der Weltrekord-Vorgänger Gebrselassie war 1996 in Atlanta drauf und dran, ebenfalls seinen Double-Auftritt mit Gold zu krönen. Doch beim Sieg über 10 000 m hatte er sich so starke Blutblasen gelaufen, dass er auf den Start über die 5000 m verzichtete. Aber auch Bekele war der Doppel-Triumph bislang nicht vergönnt. Bei den WM im Vorjahr in Paris war er Sieger über 10 000 m geworden, musste sich aber im 5000-m-Finale durch taktisch unkluges Verhalten mit der Bronzemedaille begnügen. »Das«, so hatte Äthiopiens Cheftrainer Dr. Woldemeskel Kostre angekündigt, »war ihm eine Lehre und wird ihm nicht wieder passieren.« Vor vier Jahren in Sydney war das olympische 10000-m-Finale ein »Länderkampf« zwischen Äthiopien und Kenia. Gebrselassie siegte in 27:18,20 min mit gerade einmal neun Hundertstelsekunden Vorsprung vor Paul Tergat (Kenia) und dem Äthiopier Assefa Mezegebu (27:19,75). Kein Zweifel, dieser Zweikampf wird sich diesmal wiederholen. Den Äthiopien-Express mit Bekele und Gebreselassie vervollständigt Sileshi Sihine. Der erst 21-Jährige (damit Jüngster im äthiopischen Lauftrio) ist gegenwärtig Zweiter in der Weltbestenliste und könnte dem Shootingstar und dem Altmeister möglicherweise sogar ein Schnippchen schlagen.

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