Der Sumo-Pionier tritt ab

Die großen Männer kommen wieder zur WM nach Riesa

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Anfang waren es die gleichen Fragen, immer wieder. Wie groß? Wie schwer? Wie viele Kalorien am Tag? Alexander Czerwinski antwortete gern: 1,84 Meter, 215 Kilo, 8000 Kalorien. Diese Eckdaten, aufgestellt vor Jahren, genügten, um ein Bild von ihm zu zeichnen. Czerwinski war der König einer kolossalen Clique, der beste deutsche Sumo-Ringer. Er war ein begehrter Exot, der den Sprung aus der Anonymität geschafft hatte, er wurde von Talk-Show zu Talk-Show gereicht, wuchtete den Blödelbarden Stefan Raab nieder, spielte Theater in Berlin und zog für das Guinness-Buch der Rekorde einen tonnenschweren Zug. Manchmal fühlte er sich reduziert auf den liebenswerten Dicken, der den deutschen Aufklärer spielen musste für eine komische Kampfkunst aus dem Fernen Osten. »Jeder Sport im Wachstum braucht eine Figur«, sagt Czerwinski, »ich habe gern diese Rolle ausgefüllt.« An diesem Wochenende finden in Riesa die zwölften Amateur-Weltmeisterschaften im Sumo-Ringen statt. In den Hotels wurden vorsorglich die zarten Holzbeine der einsturzgefährdeten Betten demontiert, Hilfsköche eingestellt und Speisekammern bis unters Dach gefüllt. In Riesa, wo 1999 die erste WM außerhalb Japans ausgetragen wurde, treten 200 Frauen und Männer aus 35 Nationen an. Die japanischste aller Sportarten hat in Deutschland eine kleine, aber feine Nebenbühne gefunden, auch dank Czerwinski. »Wir haben Sumo emanzipiert«, sagt er. Noch vor zehn Jahren widmeten sich nur ein paar Verwegene der 1500 Jahre alten Kampfkunst. Die ballverliebten Europäer konnten den Kämpfen im Dohyo, dem Schauplatz der Sumotori, nichts abgewinnen. Oft dauern die Duelle nur Sekunden, das Vorspiel dafür umso länger. Minutenlang stampfen sie auf den Boden, als seien sie seit Stunden auf der Suche nach einer Toilette. Vor vier Jahren dann glückte der Quantensprung. Czerwinski und andere deutsche Berufsdicke wie Jörg Brümmer aus Frankfurt (Oder) und Torsten Scheibler aus Berlin wurden in Sao Paulo Mannschafts-Weltmeister, sie besiegten die Japaner, bis dahin übermächtige Branchenführer. Inzwischen wickeln sich in Deutschland über 1000 Sumotori regelmäßig den Mawashi um den Unterleib, das einzige erlaubte Kleidungsstück, vergleichbar mit einer Windel, nur 15 Meter länger. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Sumo im nächsten Jahrzehnt olympisch wird. »Das Feld ist bereitet«, meint Alexander Czerwinski, 35 Jahre alt, angelangt im Herbst seiner Karriere, »die Ernte müssen andere einfahren.« Er sagt das nicht aus Verbitterung. Viele Europäer haben den Sprung ins Mutterland gewagt, sie sind Profis in Japan geworden und verdienen nun üppige Gagen. Einige von ihnen hätte Czerwinski mit dem kleinen Finger umgeschubst, das sagt er zumindest, aber für ihn kommt der Boom der Beleibten zu spät. Einerseits schade. In Japan werden Sumotori verehrt wie die Fußballer von Real Madrid. Czerwinski war oft in Asien. »So spielt eben das Leben«, sagt er lapidar. Von Wehmut keine Spur. Es wird Zeit, dass er das Tempo drosselt. Mehrfach wurde er an den Kniegelenken operiert, es sind die Folgen des Raubbaus, den er seit 24 Jahren betreibt, als er mit Judo begann und später zum eng verwandten Sumo wechselte. Er hatte sich den Bedingungen des Sports freiwillig unterworfen, brach das Abitur ab. Der Erfolg, die vielen Titel und das wachsende Interesse der Medien entschädigten dafür. »Die Prioritäten verschieben sich mit der Zeit«, sagt Czerwinski. Den Kampf gegen das Klischee hat er gewonnen, vielleicht war es der schwerste überhaupt. Er wird nicht mehr als Klamauk-Koloss wahrgenommen, er hat sich fortgebildet, viele Bücher gelesen. Es gibt eine Welt abseits des Dohyos, das hat er begriffen. Und er hat abgenommen, er wäre der ideale Ernährungsberater, wiegt nur noch 140 Kilo. Wenn er über seinen Sport spricht, klingt er nicht mehr wie ein erzwungener Spaßvogel, sondern wie ein Trainingswissenschaftler. Die WM ist einer seiner letzten großen Auftritte, er wird mit dem Team starten, im Einzel haben andere Kollegen seinen Platz eingenommen. Czerwinski hat in seiner Heimat Rostock die Frau seines Lebens gefunden, will demnächst eine Familie gründen. Ganz wird er vom Sumo nicht loskommen, hat er doch Angebote vom Fernsehen vorliegen, als Experte. Alexander Czerwinski bleibt seiner Rolle treu: einmal Aufklärer, immer Aufklärer. Die Sumo-WM findet am Wochenende in der erdgas arena in Riesa statt. Tickets kosten 19,90 Euro pro Tag oder 35 Euro für beide Wettkampftage. Am Sonnabend starten die Kämpfe um 12 Uhr, am Sonntag (offene Klasse und Mannschaft) bereits um 11 Uhr.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.