Der Anfang vom Ende

Vor 15 Jahren: der Sturz Honeckers und die Inthronisation von Krenz

  • Gerd-Rüdiger Stephan
  • Lesedauer: 4 Min.
Einen Tag nach der historischen Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 brach im SED-Politbüro der offene Machtkampf aus. Auf der turnusmäßigen Sitzung legte eine Gruppe um Egon Krenz, zu der Siegfried Lorenz, Erich Mielke, Günter Schabowski, Willi Stoph und Harry Tisch gehörten, den Entwurf einer Erklärung vor, welche die bisherige Linie Erich Honeckers mindestens in zwei Punkten korrigierte. Erstens seien die Ursachen der Monate langen Ausreisewelle auch in der DDR selbst zu suchen, zweitens partielle Veränderungen in Angriff zu nehmen. Nach turbulentem, teils chaotischem Verlauf über zwei Tage (!) wurde die von Krenz mit Unterstützung des ZK-Abteilungsleiters Wolfgang Herger initiierte Erklärung überraschend angenommen. Honecker betrachtete die Stellungnahme als »Kapitulationserklärung« und griff Krenz wegen der gefälschten Kommunalwahlergebnisse vom Mai 1989 persönlich an. Daraufhin begann der bisherige »Kronprinz«, direkt den Sturz Honeckers vorzubereiten. Unterstützung erfuhr er am 12. Oktober auf einer ZK-Beratung mit den Ersten Bezirkssekretären, auf der Hans Modrow (Dresden), Günter Jahn (Potsdam) und Johannes Chemnitzer (Neubrandenburg) ihr Schweigen brachen und sich kritisch zur Lage und zur Führungstätigkeit Honeckers äußerten. Am 13. Oktober erschien die Westberliner Ausgabe von »BILD« mit der Schlagzeile »Honecker - Mittwoch letzter Arbeitstag«; am 18. Oktober werde der SED-Generalsekretär entmachtet. Bis heute ungeklärt ist, wie diese Information zu jenem Boulevard-Blatt gelangte. Am 16. Oktober jedenfalls verständigte der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch in Moskau den KPdSU-Generalsekretär über den »Krenz-Plan«. Und bekam Gorbatschows Zustimmung; mehr noch, dieser drängte geradezu auf die Ablösung Honeckers. Am gleichen Tag bilanzierten Krenz und Herger nach vertraulichen Gesprächen - u.a. im Wald von Wandlitz - das Kräfteverhältnis: 12 von 21 Politbüromitgliedern hätten ihre Unterstützung zugesagt, 80 bis 90 von 163 ZK-Mitgliedern wären für die Absetzung Honeckers. Krenz verhinderte mit Hilfe von NVA-Stabschef Fritz Streletz Honeckers Absicht, zur »Abschreckung« vor der abendlichen Leipziger Montagsdemonstration - mit 120000 Menschen - ein Panzerregiment durch die Messemetropole fahren zu lassen. Gleichzeitig versicherte Streletz, der den in Nikaragua weilenden Verteidigungsminister Keßler vertrat, dass die Armee nicht einer Person, sondern dem Land verpflichtet sei. Auf der regulären Politbürositzung am 17. Oktober stellte Stoph schließlich den Antrag, Honecker von allen seinen Funktionen abzulösen. Kein Politbüromitglied unterstützte den bisherigen Chef; am Ende wurden Honecker, Mittag und Hermann zur Ablösung vorgeschlagen und eine außerordentliche ZK-Tagung für den folgenden Tag einberufen. Wie unsicher die »Verschwörer« aber noch agierten, wird allein aus der Tatsache deutlich, dass Mielke eine »Sicherung« der Sitzung durch zuverlässige ZK-Mitarbeiter organisierte und Krenz unverzüglich Generaloberst Streletz in das ZK-Gebäude beorderte. Am Mittwoch, den 18. Oktober 1989 wurde das 9. ZK-Plenum um 13.55 Uhr mit einer von Krenz und Schabowski vorbereiteten Rücktrittsrede Honeckers eröffnet. 159 Mitglieder und 47 Kandidaten hatten sich »über Nacht« in der Hauptstadt eingefunden. Obwohl Honecker am Vortag noch verkündet hatte, er sei »bei bester Gesundheit«, bat er nun aus gesundheitlichen Gründen um seine Entbindung und schlug Krenz als Nachfolger vor. Stoph ließ sofort abstimmen; mit einer Gegenstimme (Hanna Wolf) wurde zugestimmt. Unter Applaus schritt Honecker, mit Mühen die Tränen zurückhaltend, an den ZK-Mitgliedern vorbei zum Ausgang und verließ den Saal. Anschließend erkor das Gremium Krenz zum neuen Generalsekretär. Die Abwahl von Mittag und Herrmann ging nicht ganz so glatt. Der Mediziner Moritz Mebel verlangte eine Begründung. Stoph entfuhren die Worte: »Weil sie ihren Anforderungen nicht gerecht wurden, wie im Politbüro festgestellt wurde. Genügt das?« Es genügte. Eine einstündige, erst in der Nacht zuvor ausgearbeitete und in vielen Punkten unverbindliche Rede von Krenz, mit der er »die Wende« einleiten wollte, sollte nicht weiter diskutiert, sondern zur Arbeitsgrundlage der Tätigkeit der Parteiorganisation deklariert werden. Dagegen erhob sich Widerspruch, nochmals von Moritz Mebel sowie von Hans Modrow und Manfred Ewald. Schabowski forderte den Abbruch der Diskussion, Kulturminister Hoffmann rief aus: »Der Egon muss vor die Fernsehkamera!«. So geschah es. Krenz wurde zunächst vor dem Sitzungssaal in Person der Reporterin Anja Ludewig vom DDR-Fernsehen »empfangen«: »Herzlichen Glückwunsch!«. Er wiederholte ungekürzt seine ZK-Rede am Abend im Adlershofer Studio. Der steife Auftritt, die mehrfache Anrede der Zuschauer mit »liebe Genossen« und die völlig unzureichenden Reformansagen verbesserten die ohnehin schlechte Ausgangsposition keineswegs. Lediglich die Feststellung, künftig alle gesellschaftlichen Probleme »politisch« lösen zu wollen, prägte den Herbst '89 positiv. Mit der Wahl von Krenz feierte die »Kaderpolitik« Honeckers einen letzten Sieg. Der unter den statuaren Bedingungen nicht als Parteichef wählbare einzige Hoffnungsträger unter allen aktiven SED-Politikern, Hans Modrow, ging bereits zwei Tage nach der 9. ZK-Tagung auf Distanz zum neuen »General«. 49 Tage blieben jenem, bis am 3. Dezember 1989 alle SED-Führungsgremien geschlossen zurücktraten und ein zeitweiliger Arbeitsausschuss die Vorbereitung des überfälligen Sonderparteitages übernahm. Inwischen hatte Schabowski am 9. November die Grenzen geöffnet - »sofort« und »unverzüglich«. Der Anfang vom Ende. Unser Autor ist Herausgeber mehrerer Dokumentenbände zur Wende und Vereinigung. Abbildung: Informationspflicht Genüge getan? - Das ND vom 19. Oktober 1989

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